FRANZISKA BECHER: Welche Rolle spieltest Du in der NO!art?
DIETMAR KIRVES: Ja, wenn man von Rollen redet, denkt man eigentlich an Theater. Jedoch die NO!art ist kein Theater. NO!art ist Realität. Ich habe die NO!art wieder an die Öffentlichkeit gebracht, weil sie längere Zeit über New York hinaus keine Beachtung fand. Ich habe Boris Luries Arbeiten 1978 über Armin Hundertmark in Berlin vermittelt bekommen. Mit Armin Hundertmark hatte ich schon 1969 Kontakt. Er verlegte damals neben seiner Tätigkeit als Friedhofsgärtner kleinere Editionen mit Joseph Beuys. ►Joseph Beuys (1) kannte ich persönlich. Boris hatte Armin 1974 auf Grund einer Initiative von Wolf Vostell in einem Jutesack ein Konvolut mit NO!art-Dokumenten zur Veröffentlichung geschickt.
Diesen Sack fand ich 1978 in Armin Hundertmarks Kleiderschrank in der Berliner Kleingartenkolonie KLEEBLATT. Bemerkenswert ist hier, dass ein späterer Lurie-Rezensent auch Kleeblatt hieß. Er erwähnte die NO!art und Boris Lurie im Jahre 2002 in dem Katalog zur Ausstellung MIRRORING EVIL in New York. Hundertmark war damals als Editor mehr in Fluxus involviert und nicht in NO!art. Das passte nicht unbedingt in sein Programm. Doch Boris schrieb ihm jede Woche mindestens drei Briefe mit Anfragen: „Wann machst du was? Wann machst du was? Wann kommt das endlich in Gang? Wann kommt die Anthologie ans Tageslicht?“ Hundertmark bat mich daraufhin Anfang 1978: „Kannst du das nicht machen?“ Ich hatte mit Hundertmark ein Kulturmagazin gestaltet, das unter dem Titel ►AUSGABE (2) erschien. Die erste Nummer kam 1976 ans Tageslicht. Daher wusste er, dass ich von Layout und Druckgestaltung Ahnung hatte. Und auch deshalb bat er mich, die NO!art in die Hand zu nehmen.
Sodann sah ich mir das an. Und fand den Input für mich relevant. Ihre Maxime entsprachen meinem Refusenik-Dasein, das die NO!art-Individuums dort propagierten. Bekämpften sie doch in meinem Sinne die inhumanen egoistischen Besser-Wissen-Sein-Mainstreamer. Sie kämpften gegen die Kunstmarkt-Manipulationen und waren gegen die scheinheilige Ästhetisierung der Gebrauchsgegenstände im Alltag zur Konsumsteigerung. Sie kämpften gegen den Pop-art-Mainstream. Hoffentlich sind die Pop-Artisten mit ihrem Rich Money glücklich gestorben. Es lebe Lukas Cranach, Leonardo DaVinci, Van Gogh und Tatlin.
Und so fand ich wieder den Einstieg in das Kunstwesen. Fing wieder an, mich mit dem "elendigen Kunstgebahren" zu beschäftigen und gegen sie zu arbeiten.
Daraus hervorgegangen sind dann meine Aktivitäten. Und zwar 1988 mit der von mir und Boris Lurie gestalteten ersten ►NO!art-Anthologie (3). Dann die große ►NO!show 1995 in Berlin (4), die ►Boris Lurie-Show 1998 (5) in Buchenwald. 2003 das Buch ►NO!art in Buchenwald (6) mit Texten und Bildern von Boris Lurie, ergänzt mit Werken seiner Freunde, sowie die ►NO!-ON Show 2003 (7) in Berlin mit weiteren involvierten Künstlern. Und im Jahre 2000 — also zur Jahrtausendwende — startete ich die NO!art-Webseite im Internet mit der Veröffentlichung eines Teils der bisherigen Aktivitäten. Diese NO!art-Webseite pflege ich nun schon seit zehn Jahren — also auch heute noch. Ich habe dadurch die Akzeptanz der NO!art auf mittlerweile mehr als 100 Tausend Page Views im Monat gebracht. Siehe www.no-art.info
Und was hat Dich an der NO!art am meisten angesprochen?
Wie schon erwähnt, dass die NO!art gegen den Kommerz und gegen die Manipulation der Kunst ankämpfte. Ich zitiere hier dazu Boris Lurie: „NO!art ist die strategische Kreuzung, auf der sich künstlerische Produktion und gesellschaftlich-kulturelle Aktion begegnen. Ziel der NO!art ist der völlig unbehinderte Selbstausdruck durch die Kunst, die in ein gesellschaftliches Engagement einfließt.“ Auf der einen Seite muss man sich ja auch manipulieren lassen, wenn man daran denkt, man braucht auch einen Lebensunterhalt. Und wovon soll man leben? Man braucht ja auch was zum Essen und ne Wohnung und so weiter. Und Boris Lurie finanzierte seinen Lebensunterhalt mit Aktienspekulationen Mit 50 Cent Aktien handelte er, die dann später mehr und mehr an Wert gewannen. So war er gar nicht drauf angewiesen, mit Kunst seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er war interessiert daran, Kunst zu machen. Bloß, wer Kunst macht, muss die auch irgendwie an die Öffentlichkeit bringen. Und das Problem, sie an die Öffentlichkeit zu bringen, war schwierig für ihn. Und deswegen war es eine glückliche Verbindung über Armin Hundertmark und mich, die NO!art in weitere Kreise einzubringen.
Was für ein Verhältnis hattest Du zur March-Gruppe?
Die March-Gruppe war ein Vorläufer von der NO!art Bewegung und hatte ihren Wirkungsbereich in der Lower East Side, das war in der Kellergalerie in der 10. Straße in New York Downtown (Bowery Scene). Von der March-Gruppe kenne ich persönlich Boris Lurie, Rocco Armento, Allan Kaprow, Jean-Jacques Lebel, Gertrude Stein und Suzanne Long. Später später lernte ich auch Aldo Tambellini kennen.
Nach welchen Kriterien fanden die Künstler ihren Einstieg in die NO!art?
Es konnte eigentlich jeder Künstler mitmachen, der nicht in den White-Cube-Galerien ausstellen wollte und eine gesellschafts- und kunstkritische Einstellung hatte. Je nach vorhandenem Platz in der March-Galerie wählten Boris Lurie, Sam Goodman und Stanley Fisher die Künstler aus. Zeitweise waren es mehr als zwanzig Künstler. Sie hatten woanders keine Ausstellungsmöglichkeiten. Und die March Galerie war da eine Ausstellungsmöglichkeit. Es gab dort viele Galerien zu der Zeit in der Nähe der 10. Straße in Downtown New York. Die Künstler wollten eigentlich nur ihre Meinung zu äußern und fanden so in der March Galerie eine Möglichkeit, etwas auszustellen in Räumen zu geringer Miete. Es ging gar nicht um Kommerz. Und zu der Zeit, 1960, haben sie sich da zusammengefunden und ihre Ideen präsentiert, sind aber später dann wieder auseinander gegangen. Weil, zumeist besteht das Künstlertum auch irgendwie auf Individualisierung und jeder denkt an seinen eigenen Vorteil, so dass es eigentlich nie zu einer richtigen Bewegung gekommen ist. Es war nur die Grundtendenz vorhanden. Nämlich das NO!art-Involvement.
Die ►Kellergalerie — wie das auch im Internet zu sehen ist — war dann zu der Zeit vollgestellt mit Bildern, Skulpturen und Assemblagen. Eine Installation und ein Environment gemeinsamen Denkens. Damals liefen viele Kunstspekulanten in Downtown rum, weil New York das Zentrum der Kunstwelt war. Und die Spekulanten waren eben daran interessiert, neue Künstler zu finden, mit denen sie weiter spekulieren konnten. Und das war denen im Grunde genommen zu viel Müll in der Galerie, so dass sie sagten: „Das ist keine Kunst!“ Also auf englisch oder amerikanisch „That’s NO!art!“ So hat sich der Begriff NO!art verfestigt bei Boris Lurie und den anderen.
Und da kam sogar ein Kunstsammler, der wollte alles kaufen auf einen Schlag, was die da machten. Und das wollten sie gar nicht. Die haben den aus der Galerie rausgeschmissen. Der wollte das alles auf einem Schlag kaufen, damit er was billig im Background für seine Spekulation, falls das später mal bekannt und ‚wertvoll’ wird. Und das haben sie auch abgelehnt. Und daraufhin hat sogar Sam Goodman — der auch schon gestorben ist —, zu dem Sammler gesagt: “I shit on you, and I piss on you“, weil, mit Geld lässt sich so was nicht bezahlen.
Und dann haben die Künstler dort die Vulgärshow gemacht, und die Doomshow, also Untergangsshow und die Involvementshow. Involvement lässt sich schwer übersetzen, aber mittlerweile versteht man hier in diesem Bereich auch was Involvement ist. Und da waren halt viele Leute dabei und das war für eine bestimmte Zeit ein Ort, wo man sich unbehindert äußern konnte. Und wo auch viele Kunstkritiker hingekommen sind und darüber geschrieben haben. Was auch auf der NO!art-Website zu sehen ist. Bloß, das ist nicht in die Kunstgeschichte eingegangen. Warum auch? Manipulation, soziales Engagement und künstlerische Freiheit vertragen sich nicht.
Kann man dann überhaupt von einem Ende der NO!art 1964 sprechen?
Nein, auf keinen Fall. Hierzu möchte ich noch mal Boris Lurie zitieren: „Die NO!art lässt sich nicht auf einen bestimmten Zeitraum begrenzen, wofür sich allerdings die Kunsthistoriker einsetzen und sie mit 1964 als beendet ansehen. Begonnen auch schon vor 1958, entwickelte sich die Bewegung immer weiter. Solche Cutting-off-Dates sind bei Kunsthistorikern üblich, um sie in Katalogen zu manifestieren und die Werke für die Kommerzialisierung im Wert zu steigern. Diese Begrenzungen wirken vor allem zerstörerisch auf die Produktion der Künstler, die dadurch davon überzeugt werden sollen, dass ihre Produktion nach einem Cutting-off-Date von zweitrangiger Wichtigkeit ist und nicht länger in die ‚Heutige Zeit’ gehört.“
Es gibt unterschiedliche künstlerische Aktivitäten. Trojaner sind zum Beispiel ein gutes Instrument, weil, NO!art kann man auch als Trojaner ansehen, als Trojaner in der Kunstbewegung, der das ganze verunsichert. Bloß es ist viel Arbeit, die Szene zu verunsichern, wenn man nicht kapitalistisch stark besattelt ist, um das zu steuern. Deswegen ist es heutzutage ne gute Möglichkeit, das übers Internet zu realisieren. Das ist nicht teuer. Aber man kann wenigstens etwas bekannt machen, was man ja auch daran sieht, dass ich viele Besucher auf meiner NO!art-Webseite habe, die ich schon seit 2000 betreibe. Seit 2000 deswegen, weil vorher das Internet noch nicht so perfekt war und es noch viele Hindernisse gab mit den Computermaschinen, um das zu publizieren. Und wenn ich mich entsinne an die Zeit vor 2000, da musste man, so erinnere ich mich, pro Minute 20 Pfennig zahlen für den Empfang aus dem Internet und so was alles. Und heutzutage geht das ja alles mit Flatrate. Und mittlerweile ist die Flatrate ja schon so weit runtergekommen, dass es schon Flatrate-Ficken gibt.
Wo kann man heute noch NO!art sehen?
Nur im Internet. Oder vielleicht demnächst mal im Wald. Oder auf einer Müllkippe. Die herkömmlichen Ausstellungsmöglichkeiten sind alle zu sehr kommerzialisiert und geprägt vom täglichen Nonsense. Ja, nur im Internet. Das ist eine wunderbare Plattform, um mit Involvierten auch in anderen Ländern und Erdteilen in Kontakt zu kommen. Die Verkehrsregeln im Internet sind zur Zeit noch für jeden vollkommen frei. Dort herrscht zwar Anarchie, doch trotzdem ist dort noch der vollkommen freie Selbstausdruck möglich. Nur muss er findbar sein. Und wer es intelligent betreibt, für den gibt es keine Zensur in den Systemen. Ich habe viele Leute, die mir schreiben oder wie es heute heißt „mailen“. Die involviert sind. Mitmachen wollen. Und die ich auch nach und nach publiziere auf der NO!art-website.
Leider ist das alles mit viel Arbeit verbunden. Zum Beispiel brauche ich für jeden neuen Künstler, den ich in die NO!art integriere — ich bin ja hier nur ein „Ein-Mensch-Betrieb“ —, kann man sagen: Das kostet mich mindestens eine Woche Arbeit, und zwar mehrere Stunden am Tag, um das alles in die NO!art-Ordner einzuflechten, alles zu organisieren und in die Feedbacks reinzukriegen. Hinzu kommen dann noch die täglichen Mail-Beantwortungen. Und künstlerische Ideen habe ich auch noch. Und so viele Stunden hat der Tag gar nicht, wenn man daran denkt, wieviel Stunden man zum Schlafen, Waschen, Essen, Einkaufen, im Supermarkt an der Kasse warten verbraucht. Jedoch: Es geht voran.
Inwieweit konnte sich die NO!art etablieren?
Die NO!art hat sich nie etabliert. Weil, erst mal gibt’s nichts zu verkaufen und was es zu verkaufen gibt, die paar Videofilme oder die paar Offsetdrucke oder so, daran ist keiner interessiert. Und wer will sich schon einen Leichenwagen mit einem Striptease-Girl an der Wand hängen oder Geschlechtsteile, wo NO drauf steht. Man muß auch bedenken, dass die Welt so runtergekommen ist, dass die Leute eigentlich nichts Kritisches mehr wollen. Sie wollen nur das Schöne sehen und sich gegenüber anderem absetzen. Sie wollen etwas Besseres sein und lehnen das hässlich Kritische ab.
Meinst Du, das ist so eine Art Betäubung, es findet so eine Art Verblendung statt?
Ja, das würde ich sagen. Bloß, es muß auch irgendwie eine Fortsetzung geben. Und das ist das Problem, dann Leute zu finden, die das fortsetzen, so wie die NO!art Bewegung und viele Künstler, die dabei sind und waren. Zum Beispiel Herb Brown, der Plakate übermalt hat, schon ganz früh in den 60er Jahren. Er sagt, er ist kein NO!art Künstler. Es gibt eigentlich gar keine NO!art-Künstler und es gibt auch gar keine NO!art Bewegung. Was viele Leute sagen, das ist ein Oberbegriff, wo manche Leute, einmal etwas dazu beigetragen haben und eine Idee dazu beigetragen haben, was NO!art sein könnte oder was NO!art vielleicht ist. Es ist ein unkommerzielles NO!art-Involvement. Die Verblendung muß durchbrochen werden.
Also muß die NO!art sich gar nicht etablieren?
Nein. Etablierung ist Kommerz. Hinzu kommt noch das ganze Problem mit der Bezeichnung „Art“. Ich bin eigentlich gegen diese ganzen „ART“ Bezeichnungen, Konzept-Art, Land-Art, Copy-Art, Happening-Art, Street-Art und all solche Richtungen. Das sind nur Schubladen für die Kunsthistoriker. Mir hätte eigentlich der Ausdruck NO gereicht. Wenn man einfach nur gesagt hätte, das ist NO. Bloß, wie will man in der Kunstszene etwas in Gang setzen, wenn man immer NO sagt. Ein Beispiel zur Etablierung: Ein renommierter Berliner Galerist, der Sohn von Vostell, wollte eine Ausstellung machen mit Boris Lurie, und er fragte ihn: „Ja, wie sind den nun die Preise für deine Werke ?“ Da antwortete Lurie ihm: „Der Lichtenstein kostet zur Zeit 300 000 Dollar und meine Werke kosten 400 000 Dollar. Wenn ich mir überlege, was die in 40 bis 50 Jahre an Lagerkosten verursachten, dann müssten meine Sachen noch teurer sein.“ Und dann sagt natürlich der Galerist, dass er das für einen solchen Preis nicht verkaufen kann, so der Galerist vom Verkauf lebt. Und so war die NO!art show bei ihm out.
Also die ganze NO!art und NO ist eigentlich eine Strömung, die sich zwischen Utopie und Realität bewegt. Mann kann auch nicht immer NO sagen, man muß auch mal JA oder ON sagen. Also das Hin- und Herschwanken zwischen NO und ON. Ich sehe die Bewegung eher wie so ein Vexierbild. Oder wie ein multistabiles Wahrnehmungsphänomen. Wie zum Beispiel bei den Werken von Escher, wo im Bild die Perspektive dauernd hin und her schwankt.
Zur Etablierung gehören eben auch große Ausstellungen. Ich glaube auch gar nicht, dass eine Institution so eine große NO!art-Ausstellung machen würde mit den entsprechenden Kosten. Ich hab jetzt schon mehreren Kuratoren versucht klar zu machen, dass ich 400 Meter Wandlänge brauche, um das alles mal zu zeigen. Hinzu kommt, dass von vielen Künstlern die Werke verschütt gegangen sind. Viele sind gestorben, Niemand hat sich um den Nachlass gekümmert außer der Müllabfuhr. Hier in meinem Archiv habe ich nur Dokumente und Abdrucke, Kopien und vereinzelte Werke. Aber man könnte was zusammenstellen, bloß da muß sich jemand für finden. Mittlerweile ist die Situation in Deutschland so, dass die kulturellen Institutionen kein Geld mehr haben. Ein Beispiel: Als ich meine erste NO!art-Ausstellung arrangiert hatte in Berlin in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK), hatte die Lottogesellschaft eine größere Geldsumme zur Verfügung gestellt, weil die Transportkosten und die Versicherungskosten sehr hoch waren von New York bis hier her und so weiter. Dann aber wurde die Geldsumme umgeschichtet, erst mal, weil nicht genug Geld reinkam für andere Ausstellungen dort und dann war für die NO!art weniger da. Ich bin dann damals aus der Organisation dort ausgestiegen, zumal man mich auch noch reglementieren wollte. Es sollte nur noch Boris Lurie und gar nicht mehr die anderen NO!art Künstler aus dem NO!art-Involvement ausgestellt werden. Ein jämmerliches Arrangement. Schließlich wurde Boris Lurie von den Involvierten getrennt und an einem anderen Ort gezeigt. Das entsprach nicht mehr meiner und Boris’ Intention. Deshalb verabschiedete ich mich aus der NGBK-Arbeitsgruppe, die ich mit gutem Willen gegründet hatte. Also so etwas zu etablieren ist nicht so einfach. Boris stand das aber noch durch. Er verstand die Machenschaften des NGBK nicht. So reiste die Arbeitsgruppe ohne mich nach New York und ergötzte sich dort mit ihren Freundinnen, ohne fruchtbare Ergebnisse.
In welchem Verhältnis stehst Du heute zu der NO!art?
Ich werde sie immer noch weiter verteidigen und vertreten, also bis zu meinem Ende. Und neue Künstler, die sich interessiert zeigen an der NO!art, nehme ich auch auf, wie ich schon sagte. Nur bereitet es viel Arbeit sie in den Kontext zu integrieren, aber ich mache es. Ich versuche zur Zeit, mir von der ►„Boris Lurie Art Foundation“ (8) in New York, die sehr begütert ist, ein Buch finanzieren zu lassen über das, was ich auf den Webseiten gebracht habe. Vielleicht in einem Umfang von 800 Seiten, damit das noch mal handlich dokumentiert wird.
In welchem Verhältnis stehst Du zur Pop-Art?
Also ich finde Pop-Art ist nur eine Ästhetisierung und eine Verherrlichung der Konsumwelt, der Massenmedien und der Werbung, um ein bestimmtes Publikum zu befriedigen, das jetzt mit dem Abstrakten nicht klar kommt. Die sich was an die Wand hängen wollen, wo der Architekt das Fenster vergessen hat, was ihrem Geschmack entspricht. Interessant ist, dass Boris Lurie und Andy Warhol in derselben Strasse in New Yorks Uptown wohnten.
Was denkst Du über die Aussage von Marcuse „Der kapitalistische Fortschritt hat nicht nur den Ausgangspunkt für die Freiheit eingeschränkt, den offenen Raum der menschlichen Existenz. Sondern auch die offene Sehnsucht, das Bedürfnis nach so einem Ausgangspunkt?“
Klar, der Kapitalismus hat Vieles eingeschränkt und gefördert. So zum Beispiel, dass Viele zuerst daran denken, ihr Geld und Kapital zu vermehren. Ebenso hat der kapitalistische Fortschritt das Humankapital eingeführt. Welch schreckliches Wort. Das Kapital hat kein Gewissen mehr. Und der Kunstmarkt kocht durch Manipulation. Zum Beispiel wird das Bild von Gerhard Richter mit einem verschwommen gemalten Nazioffizier für Millionen versteigert. Was hat der Künstler davon? Aber auf der anderen Seite, gibt es für einen Künstler noch genug Nischen, wo er etwas machen kann, unternehmen kann, im kleinen Kreise und sich noch austauschen kann, dass alles noch nicht so down ist. Bloß, man muß um seinen Lebensunterhalt dazu finden, sich von anderen Unternehmungen ernähren. Man kann sich nicht mit kritischer Kunst ernähren.
Und lass uns mal auf Boris Lurie kommen, welche Art von Mensch war Boris Lurie und wie hast du ihn kennengelernt?
Er war zuvorkommend freundlich. Er war politisch kritisch aufgeschlossen, was sich ja auch aus der NO!art erklärt. Er hatte ja auch eine böse Vergangenheit gehabt in seinen jungen Jahren, die wirklich wichtig sind für die Entwicklung eines Menschen. Vom 17. Lebensjahr an verbrachte er fünf Jahre in verschieden KZs nur unter Männern. Das bringt natürlich Probleme mit sich, Beziehungen zu und Erfahrungen mit Frauen zu bekommen. Er hat auch später nie geheiratet, hatte nie eine feste Freundin und so weiter. Deshalb wurden wohl seine künstlerischen Arbeiten beeinflusst von den ganzen „Pin-up Sachen“, die er dann in New York zu Gesicht bekam. So ist auch wohl die Entstehung seiner ►„Railroad Collage“ (9) zu erklären. Er war auch ein poetischer Mensch, hat viel geschrieben Ich hab ja das ganze Gedichtbuch mit ihm zusammen gemacht und editiert „NO!art in Buchenwald: Geschriebigtes und Gedichtigtes“ mit Texten in baltendeutscher Sprache. Er kam aus Riga und liebte das Baltendeutsche. Zu erwähnen ist auch, dass er an der Wallstreet mit Aktien spekulierte und es zu einem großen Vermögen gebracht hatte. Des nachts erschien die New York Times, die er sich immer holte und dann anschließend in seiner Badewanne liegend die ganzen Seiten mit den Aktienkursen studierte. Er begann zuerst mit Aktien zu handeln, die im Titel einen Frauennamen enthielten und unter einem Dollar lagen.
Persönlich kennengelernt habe ich Boris 1988 anlässlich der Vorstellung der ersten NO!art-Anthologie in der Galerie und Edition Hundertmark in Köln. Wir hatten die NO!art-Anthologie ja beide in zehnjähriger Arbeit zusammengestellt. Jedoch standen wir per Brief, Fax und Telefon schon seit 1978 in Verbindung. Und dann hat er mich ja auch finanziell unterstützt. Hat mir sogar jeden Monat einen kleinen Betrag mit Dollars im Briefumschlag geschickt. Im Briefumschlag, weil die Bankgebühren zu hoch waren. Und so kam er auch dadurch ab und an als alter Mann in Bewegung, denn er musste von der 66. Strasse bis zur 69. Strasse laufen, wo der nächste Briefkasten war. Bloß zum Schluss wurden die Scheine so alt, dass die in der Wechselstube in Listen nachgucken mussten, ob die Scheine noch gültig sind. Boris hatte die wahrscheinlich einige Dollars unter seinem Bett gebunkert. Er hatte wahrscheinlich viel Geld in der Wohnung zu liegen. Vor seinem Ende war er mehrmals längere Zeit im Krankenhaus und dann haben Freunde von ihm seine Wohnung renoviert und zum Beispiel den Kühlschrank weggeschmissen mit uralten Sachen drin und all so was. Da musste wohl auch Geld drin gewesen sein. Er hat sich dann mit den Wohnungsrenovierern vollkommen zerstritten. Ja er hat mich unterstützt und wir haben telefoniert, einmal die Woche mindestens und uns ausgetauscht, na ja und dann hab ich ihn ab und an besucht in New York zum Gedankenaustausch, Kunstlagersichtung und so weiter.
Und hätte die NO!art überhaupt so sein können ohne Boris Lurie, seine Erfahrungen und Kunst? Also inwieweit hat es sein Leben geprägt und die NO!art?
Nein. Auf keinen Fall. Denn er hatte ja zusammen mit seinen Künstlerfreunden in Lower East Side — in der Nähe der Bowery Street —, die March-Galerie initiiert und damit die NO!art geprägt. Und Boris war der einzige, der den NO!art-Gedanken mit mir weitergeführt hat bis in 21. Jahrtausend. Zu erwähnen ist hier auch Clayton Patterson, der sich in New York seit 1994 für die NO!art einsetzte und eine Ausstellung mit Lurie, Aronovicci und Tambellini in seiner Outlaw Galerie machte.
Wie immer in losen Zusammenschlüssen, gehen viele Künstler oftmals ihre eigenen Wege weiter und somit auseinander, einige wollten damit nichts mehr zu tun haben, und, viele sind auch inzwischen gestorben. Und so habe ich mit Boris und Clayton Patterson zusammen weitere Künstler involviert in der NO!art. Also die NO!art hat ihn und sein Leben bis zum Ende geprägt. Bis zum Ende hat er noch Umschichtungen im NO!art-Involvement vorgenommen und auch zum Teil notariell festgelegt. Kunst war für ihn das Ausdrucksmittel in der Gesellschaft. Sogar sein Vater wollte, dass er Künstler würde. Schon als Sechzehnjähriger machte Boris in Riga Buchillustrationen für die Lettische Kommunistische Partei.
Und natürlich haben Boris’ KZ-Erfahrungen die NO!art ebenso geprägt. Sein Vater ist 1945 in Buchenwald von den Amerikanern befreit worden und lief merkwürdigerweise sofort im schwarzen Anzug draußen rum, so erzählte es Boris. Und Boris selbst befand sich in Magdeburg, einem Aussenlager von Buchenwald. Es war ein Arbeitslager bei den Poltewerken zur Munitionsherstellung. Er hatte also dort was zu essen bekommen, mehr als die in Buchenwald, und musste aber jeden Tag hart arbeiten. Beschützt wurde er von irgendwelchen geheimen Mächten, damit er nicht in die Gaskammern kommt. Er hat auch nie Gaskammern und Massenvernichtungen gesehen. Das Arbeitslager in Magdeburg wurde im April 1945 wegen schwerer Bombenangriffe aufgelöst. Na ja und dann ist er gleich danach mit seinen Englischkenntnissen — woher er die hatte, weiß ich nicht — ist er gleich von dem C.I.C. — einem amerikanischer militärischen Geheimdienst — angeworben worden. Er konnte für die dann übersetzen, deutsch, englisch, russisch und so weiter. Wurde dann eingesetzt, um Nazis zu finden. In Deutschland, in der Umgebung von Magdeburg. Dann hat Boris das wohl so übertrieben — Kino war ja auch interessant damals, es gab ja kein Fernsehen —, hat er Mädchen ins Kinos eingeladen, die dem Geheimdienst nicht gepasst haben. Daraufhin hat der C.I.C. ihn entlassen. Und dann ist er ... Sein Vater war schon 1945 in New York angekommen. Er ist erst am 18. Juni nach New York gekommen. Und sein Vater hat dort gleich mit Immobiliengeschäften angefangen.
Und Boris Lurie dann mit Aktien?
Nein. NO. Er sollte ja Maler werden, Künstler werden. Deshalb hat sein Vater ihn nach Paris geschickt. Ich glaub für ein bis Jahre. Dazu gibt es ja auch in der NO!art Anthologie das eine Bild, wo Man Ray und Marcel Duchamp vor einem NO!art Bild zu sehen ist, während einer Ausstellung 1964 in Paris. Er sollte jedenfalls in die Kunst rein kommen. Und entwickelt hat sich das, weil er schon früh an Kunst interessiert war. Mit elf kannte er schon Marc Chagall.
Und im KZ avancierte er unter dem Schutz des jüdischen SS-Offiziers Scherwitz zum Schildermaler und Tischler. Er musste auch Särge bauen für die, die erschossen worden waren. Weil er war immer in kleineren Lagern gewesen war, wo nichts mit Vergasung statt fand, keine Massendeportation oder so, hat er eigentlich nie diesen Lastwagen voll mit Leichen gesehen. Darauf hat ihn erst Sam Goodman aufmerksam gemacht. Er hatte einen ganzen Koffer voll mit Fotodokumentationen aus dieser Zeit. Und dann hat Boris Lurie das erkannt und hat das gegenüber gestellt mit seinen fehlenden Erfahrungen in der jugendlichen Sexualität und was da alles abläuft und so weiter. So entstand dann auch seine RAILROAD COLLAGE.
Ja, sein Vater war Immobilienhändler und hat sein Kunststudium finanziert. Boris war ja ein guter Maler. Kann man ja sehen, an seinen Bildern. In den 60er Jahren starb sein Vater, was Boris sehr betrübte und worunter er sehr litt. Jedoch war Boris wohl schon früh fixiert auf Geldvermehrung. So ist er darauf gekommen, dass es das einfachste ist, sich Mengenweise 50 Cent Aktien zu kaufen. Er holte sich immer — wie schon erwähnt —die New York Times. Ein ganz dickes Ding mit ganz kleiner Schrift. Zwei Millimeter groß die Aktiennamen. Zuerst kaufte er nur Aktien mit Frauennamen. Und irgendwann hat er dann mal gesehen, das Olivetti auch auf 50 Cent runtergeflogen war. Da griff er zu. War er doch 1939 in Italien bei seiner Schwester gewesen. Er liebte das Land. Später kamen auch die Ausstellungen in Mailand und Rom. Olivetti stieg dann um das mehrfache. Auch kaufte er für 50 Cent norwegische Hotelaktien. Die Hoteliers kamen später auf die Idee, ihre leerstehenden spanischen Küsten-Hotels mit Computerspezialisten und Software-Entwickler anzufüllen. Und dann ging plötzlich die Computerblase hoch und die 50 Cent-Aktie stand bei 170 Dollar.
Ich weiß es noch genau. An diesem Tag war ich sogar noch bei ihm in New York. Als er das neben mir am Telefon erfuhr, sprang er in die Luft. Ich sagte ihm sofort: „Jetzt kaufen wir uns ein Schloss in Thüringen, ein NO!art-Schloss!“ Gerade war die DDR zu Grunde gegangen und da konnte man so was billig kriegen. Er beauftragte dann gleich Naomi in Weimar, Fotos von passenden Objekten zu machen. Sie schickte gleich herrliche Fotos von einem Objekt in der Nähe, was noch zu haben waren und so weiter. Aber das ist dann alles nicht mehr in Gang gekommen. Weil, die Aktienspekulation hat auch was mit Liebe zu tun. Und wenn man sich da eingelassen hat, kann man nicht mehr davon lassen. Deswegen hat er immer weiter spekuliert, weiter, immer weiter. Sein Freund Martin hatte 18 Millionen Dollar. Und Boris hatte nur 17 Millionen. In seinen „Gedichtigten Texten“ schrieb er einmal, wenn er ►17 Millionen Dollar (10) zusammen hätte, dann hört er auf. Er hat aber nie aufgehört.
Und warum ist das Buch „Geschriebigtes, Gedichtigtes“ erst 2003 publiziert worden?
Das sollte ursprünglich ein Katalog sein mit 30 Seiten für seine Ausstellung 1998 in der Gedenkstätte Buchenwald, mit einigen Abbildungen und so weiter. Boris aber wollte seine Texte, seine ausgestellten Werke und die Bilder von seinen befreundeten Künstler mit in den Katalog einbringen und von mir gestaltet haben. Der Gedenkstättenleiter — Volkhard Knigge — stimmte dem zu. Boris fing nun an zu schreiben, zu schreiben und zu schreiben Das hätte eigentlich nie ein Ende gefunden. Langsam setzte die Gedenkstättenleitung Fristen, so dass das Katalogbuch Ende Juni 2001 zum Druck bereit lag. Leider kam das Buch erst 2003 ans Tageslicht, weil der Druckerherausgeber das noch lange verzögerte. Das wurde ein ganz dickes Ding mit 448 Seiten. Als ich Boris sagte: „Jetzt ist Schluss!“, schickte er mir noch folgendes Gedichtigtes: Meine Sympathie ist mit der Maus, doch ich füttere die Katze. Diese Aussage konnte ich noch mit in das Buch einbringen und das sagt eigentlich viel über Boris selbst aus.
Er ist sozial eingestellt. Aber durch den Aktienhandel und so weiter füttert er ja die Kapitalisten. Deswegen war er auch gar nicht darauf angewiesen, etwas zu verkaufen. Alle die Leute die in der NO!art involviert waren und mal teilgenommen hatten, hatten zu der Zeit eigentlich nichts verkauft. Ein paar sind noch bekannter geworden wie D’Arcangelo zum Beispiel. Der hat für die Münchner Olympiade sogar das Plakat gemacht. Oder Dorothy Gillespie hat für das Rockefeller Center einige Skulpturen im Innenhof geschaffen, und so weiter. Was dann aber im Grunde genommen nichts mehr mit der NO!art zu tun hatte, bloß die Anfänge waren begründet in der NO!art, gesellschaftskritisch zu sein.
Und wo hat Boris Lurie seine Sachen gelagert?
Er hatte eine Wohnung in der 66. Straße und da sein Vater Immobilienmakler war, besaß er noch ein Haus in der 77. Straße, genannt das ‚Studiohaus’. Und da hatte er sechs oder acht Mietparteien drinnen wohnen und die haben dann auch die Rendite für das Haus erbracht. Und dort im Keller hatte er seine ganzen Kunstwerke gelagert. Aber so gelagert, dass sie vor Schäden gar nicht geschützt waren. Und in New York ist eigentlich die Kakerlakenplage überall. Die haben wohl Spaß an Farbe und Kunstwerken. Manche Bilder sind so richtig schön ausgefressen. Da fehlt oftmals schon die Hälfte von dem, was auf dem Keilrahmen aufgespannt war. Eigentlich macht das einige Werke noch interessanter. Der Zahn der Zeit.
2001 war ich mit meinem Sohn dort im NO!art-Kunstlager, um die große Ausstellung im ►Block Museum (11) in Evanston vorzubereiten. Wir haben dann die restlichen Werke noch in Plastik eingepackt, so dass die Kakerlaken nicht so schnell da rankommen, weil wir gemerkt hatten, Plastik mögen die nicht. 2008 starb Boris und dann konnte ich das nicht mehr weiter verfolgen. Jetzt will ich jedoch demnächst dorthin fahren, um noch zu sehen, was davon übrig geblieben ist.
Und was passiert mit dem Headquarter, was hast Du vor?
Ja, ich hab ja hier den Briefwechsel mit den vielen Künstlern und seinen Freunden, die mit ihm bekannt waren. Das hab ich hier alles in den Ordnern liegen. Und das möchte ich gerne einem Museum vermachen. Bloß die Museen sind da nicht unbedingt interessiert daran, weil sie das noch nicht so einordnen können, in ihre Kunstgeschichte. Ich möchte mal sehen, was im 19. Jahrhundert an Schlachtenbildern und Skulpturen geschaffen worden ist. Da sind in Berlin ganze Museenkeller und Archive davon voll und keiner will das mehr haben. Die Museen wollen das nicht weg schmeißen, haben aber auch nicht mehr viel Platz für Neues. Das meint, die Museen und Archive sind eigentlich nicht mehr ‚in der Zeit’. Sie archivieren nur das, was für Wohlhabende geschaffen wurde. Und die Kunstszene ist so weit gefächert, dass Künstler sich eigentlich für alles hergeben, um das Bürgertum mit seinen Machenschaften zu befriedigen. Und wenn da jetzt die NO!art hinzukommt, wird das problematisch. Ich muß also jemanden finden, der das zu schätzen weiß, was da mit Sache ist.
Also mit der Kunstbewahrung, ist das so ein Problem. Es geht zumeist auf Handel aus und was zu der Zeit gehandelt wurden ist. Van Gogh war zu seiner Zeit überhaupt nicht gefragt. Er hatte Mühe seine Pinsel und Farben zu kaufen zum Beispiel. Oder andere Bewegungen wie „die Brücke“. Die waren auch bloß vorübergehend zusammen. Oder „Fluxus“. Da hat mal hier und da jemand mitgemacht, oder so und dann sind alle wieder ihre eigenen Wege gegangen. Es ist alles also eine Frage, wie man die Geschichte rückblickend sieht. Alles eine Frage, wie man sie ansehen kann und für wen die wichtig ist und warum die wichtig ist. Auch im Kontext zum zeitlichen Geschehen, was jeweils in der Zeit geschieht. Deswegen habe ich neben der Website NO!art, die ich schon seit zehn Jahren pflege, noch eine Seite mit „mindshots“ im Internet publiziert (mindshots.info) . „mindshots“, das meint, etwas im Gehirn in Gang setzten. Wo aus dem zeitlichen Geschehen bestimmte Sachen rausgegriffen werden, um den Leuten zu zeigen, was in der Zeit auch passierte, aus der Sicht von NO!art relevant ist.
Und der Nachlass von Boris Lurie?
Ja, der Nachlass liegt jetzt bei der Boris Lurie Art-Foundation in einem New Yorker Lager. Der Nachlass ist unsortiert. Denn die Leute, die das eingelagert haben unter Aufsicht von Gertrude Stein und ihren Rechtsanwälten, die haben eigentlich gar keine Ahnung davon, was das eigentlich ist. Ich bin eigentlich der Einzige, der das einordnen kann, in eine Reihe bringen kann, oder was dazu sagen kann, wie die Entwicklung weiterging. Gertrude hat sich eigentlich von Boris schon in den 70er Jahren verabschiedet. Sporadisch hat Boris Gertrude besucht. Aber es war immer der Unterschied da zwischen Upperclass und ‚Künstlerdreck’. Ich düse also demnächst nach New York und guck mir den Rest noch an, was noch da ist und was da zu machen ist. Und um auf die schnelle noch Mitarbeiter zu finden, um eine Ausstellung zu machen von der ganzen Sache. Angeboten wurde mir schon eine in München, aber mit Bayern komm ich nicht klar. Ich hab noch jemanden in Athen und noch andere Connections.
Bloß zur Zeit ist das hier bei mir ein „Ein-Personen-Betrieb“. Ich möchte, wie gesagt, noch eine große Ausstellung machen und dann ist Schluss. Ich kann nicht mehr so viel machen in meinem hohen Alter. Auf der NO!art-Website befinden sich zur Zeit etwa 9.450 Dateien. Da muß man sich mal Folgendes überlegen: Wenn man für jede Seite 10 Sekunden braucht zum Ansehen, dann sitzt man da schon eineinhalb Monate dran, um das alles zu lesen und zu sehen bei einem Acht-Stunden-Tag. Wer will das schon machen? Das ist schon viel. Und das ist etwa ein Zehntel von dem, was sich im Archiv befindet. Das müsste dann schon wirklich eine Gruppe weitermachen, irgend eine interessierte Staff oder so, damit das weiter in Gang bleibt. Bloß wer ist an so was interessiert, was im Grunde genommen gar keiner haben will, weil es zu kritisch ist und nicht dem Mainstream entspricht.
Oder unverstanden?
Ja und unverstanden auch noch. Das Problem ist das auch heutzutage in diesem vielfältigen Medienzeitalter, dass die Leute alle nur noch Öl- oder Acrylbilder bevorzugen, Skulpturen in Eisen und Stein oder so. Die wollen was Handfestes in der Hand haben.
Die NO!art ist ja nur virtuell im Internet. Also wenn ich mich dem jetzt anpassen würde — ich hab mir schon Angebote aus China eingeholt, die würden mir das alles in Öl nachpinseln und alles, nach meinen Wünschen erledigen — und dann könnte ich das auf den Markt schmeißen. Aber das ist nicht mein Wille.
Die Zeit ist sehr im Umschwung begriffen und viele Künstler lehnen das Internet ab. Jedoch manche benutzen es schon. Es ist ein ganz starker Aufbruch zur Zeit in der Kunstmanipulation festzustellen. Und gerade hier, wo Berlin jetzt so offen geworden ist, und die Mieten hier noch recht billig sind — an jeder Straßenecke macht eine neue Galerie auf. Aber es geschieht nichts Neues und nichts Kritisches. Die wiederholen wieder die alten Sachen. Und dann kommen irgendwelche Sammler daher und wollen gleich den ganzen Laden kaufen. Damit die Künstler befriedigt sind und dann denken, das wird dann hochgepuscht.
Ich danke Dir für das NO!art-Interview.
Liebe Franziska, ich danke Dir ebenfalls, dass Du von Weimar nach Berlin gekommen bist und Du in der NO!art involviert bist.
Es war für mich schwer, wieder den Einstieg in die Kunst 1978 zu vollziehen. Hatte ich doch von der herkömmlichen Kunstszene ‚die Schnauze voll’. Ich wollte überhaupt gar nichts mehr damit zu tun haben. Während meiner Kasseler Studienzeit hatte ich 1963 an der documenta III mitgewirkt als Presse-, Publikums- und Künstlerbetreuer. Dann, 1968, sammelte ich in der Düsseldorfer Kunstszene Erfahrungen. Damals ein ‚wichtiges’ Kunstzentrum in Deutschland. Die ganzen Machenschaften widerten mich an. Wie das alles abläuft. Wie da manipuliert wird. Wer wann stirbt. Wann die Preise steigen. Welcher Sammler zu hofieren ist und so weiter. Was Kunst ist und wer vor der Tür bleibt. Und da hab ich mich 1974 in die Mauerstadt Berlin abgesetzt, um von der Kunstszene Abstand zu nehmen. Hier war keiner unbedingt interessiert an Kunst und deren Manipulation. Hier ging es mehr um soziale politische Dinge und Belange wie Ost-West-Konflikt, Autonome Bewegungen, Hausbesetzungen, Punkbewegung, Demonstrationen und so weiter. Hier befand sich keine saturierte Gesellschaft.
Anmerkungen:
(1) HANDAKTION DER TISCH, 1968, Dokumentation einer Aktion von Joseph Beuys und Anatol Herzfeld,
Düsseldorf 1968, aufgenommen von Dietmar Kirves. Steidl Verlag, Göttingen 2009.
►https://kirves.no-art.info/de/filme/1968_beuys+herzfeld/26_dvd.html
(2) AUSGABE, Ein Literatur- und Kunstmagazin, herausgegeben von Armin Hundertmark unter der Mitarbeit von Dietmar Kirves, Edition Hundertmark, Berlin 1976 — 1979.
►https://kirves.no-art.info/de/!publikationen/1976-79_ausgabe.html
(3) NO!art, Anthologie zur NO!art mit allen involvierten Künstlern, zusammengestellt von Boris Lurie und Dietmar Kirves, Edition Hundertmark, Köln 1988.
►https://kirves.no-art.info/de/!publikationen/1988_no-art-anthologie.html
(4) NO!, Ausstellung, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK), Berlin 1995, initiiert von Dietmar Kirves mit Werken von Boris Lurie, Sam Goodman, Stanley Fisher, Allan d'Arcangelo, Suzan Long, (Harriet Wood), Isser Aronovici, Jean-Jacques Lebel, Dorothy Gillespie, Yayoi Kusama, Michelle Stuart, Erro, Herb Brown, Stella Waitzkin, Lil Picard, Rocco Armento, Esther Gilman, Richard Tyler mit Textbeiträgen von Ulrike Abel, Georg Bussmann, Estera Milman, Clayton Patterson, Simon Tayler, Wolf Vostell.
►https://retro.no-art.info/1990-99/1995_no/info-de.html
(5) BORIS LURIE: WERKE 1946-1998, Ausstellung in der Gedenkstätte Weimar-Buchenwald, 13.12.1998 - 10.5.1999 ►https://retro.no-art.info/1990-99/1998_buchenwald/info-de.html
(6) NO!art in BUCHENWALD, Boris Lurie: Geschriebigtes - Gedichtigtes zu seiner Ausstellung in der Gedenkstätte Weimar-Buchenwald, ergänzt mit Arbeiten seiner Freunde aus der NO!art-Bewegung, herausgegeben von Volkhard Knigge, Eckhart Holzboog und Dietmar Kirves, Eckhart Holzboog Verlag Stuttgart 2003. ►https://retro.no-art.info/2003/luriebuch/info-de.html
(7) NO!ON GRUPPENAUSSTELLUNG, Kurator: Dietmar Kirves, 8. November - 1. Dezember 2003, Galerie Berliner Kunstprojekt, Berlin-Kreuzberg, teilnehmende Künstler: Boris Lurie, New York; Clayton Patterson, New York; Seth Tobocman, New York; Aldo Tambellini, Cambridge; Amikam Goldman, Tel Aviv; Jean-Jacques Lebel, Paris; Frank-Kirk Ehm-Marks, Berlin; Blalla W. Hallmann, Windsbach; Hansk, Berlin; Harry Hass, Berlin; Dietmar Kirves, Berlin; Enzo Mastrangelo, Berlin; Stu Mead, Berlin; Peter Meseck, Berlin; Bruno S., Berlin; Naomi T. Salmon, Weimar; Reinhard Scheibner, Berlin; Lars Schubert, Berlin; Klaus Theuerkauf, Berlin; Friedrich Wall, Freienbrink; Mathilda Wolf, Berlin; Natalia E. Woytasik, Berlin und Miron Zownir, Berlin.
►https://kirves.no-art.info/de/!ausstellungen/2003_no-on.html
(8) Boris Lurie Art Foundation: > http://borislurieartfoundation.org + Kommentar in Englisch:
►http://borislurie.no-art.info/press/100401_century.html
(9) ►Boris Lurie: Railroad Collage.
(10) Boris Lurie (2000): “Jetzt hab´ ich 17 Millions U.S.-Dollars, 18 ist meine Glückszahl ...
►http://text.no-art.info/de/lurie-geschriebigtes/texte-2000.html#10-02-2000
(11) NO!art AND THE AESTHETICS OF DOOM, Block Museum, Evanston, ILLINOIS , Gruppenausstellung mit
Rocco Armento, Isser Aronovici, Herb Brown, Allan D'Arcangelo, Stanley Fisher, Dorothy Gillespie, Sam Goodman, Allan Kaprow, Yayoi Kusama, Jean-Jacques Lebel, Boris Lurie, Lil Picard und Wolf Vostell.
►https://retro.no-art.info/2001/block/info-de.html