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Dietmar Kirves: Wie es weiterging suchen

781109. KAPITEL
Maien erfährt, wie ein Staatsoberhäuptling
in 24 Stunden das eingemauerte West-Berlinum
besichtigt und darnach wieder das Weite sucht.
Manuskript aus: Carl Mai, Wie es weiter ging, Berlin 1941-92

Figur | Foto: D. KirvesSo nun die Stadt West-Berlinum aufgrund von ungeklärten Friedensabkommen nach dem letzten grossen Weltkriege noch immer inmitten der östlichen Gefilde lag als Faustpfand der westlichen Mächte, hatten die sozialistischen östlichen Machthaber diese mit hohen Mauern umbaut, damit ihnen ihr Volk nicht zuhauf in den Westen laufen konnte, weil sie sonst nichts mehr zum Regieren gehabt hätten.

Aus großer Höhe gesehen, glich die Mauer um die Stadt einem großen gezacktem Bilderrahmen, in dem die Menschen gleich Ameisen emsig umherliefen und ihre Haufen im Wohlstand bauten, denn ringsrum zeigten sich nur dünn besiedelte Flächen, hier und da mit einer Datscha befleckt von scheinheiligen Ost-Funktionären.

Und über die Fernsehfrequenzen auf den ultrakurzen Wellen schickte der Westen dem Osten noch die flimmernden Bilder in die Wohnungen für die nach dem Wohlstand Lechzenden.

Fluchtversuche über die Mauer in Richtung West-Berlinum wurden von den dazu Beauftragten kleinen Grenzern unbarmherzig mit Schußwaffengebrauch verfolgt, wobei etliche der Fliehenden zu Tode kamen und etliche der Schützen dafür eine Urkunde erhielten zum Wohle des Volkes.

Dieser Zustand wärete nun schon an die siebzehn Jahre lang, als ich in dieser Stadt wohnete. Und immer noch rissen sich die westlichen Sohäulis (=Staatsoberhäuptlinge) darum, dieses Dilemma auf Stippvisiten zu bewundern, ohne etwas daran zu ändern mit ihrer Diplomatie. Waren sie doch Stolz darauf, hier ein Agentenkarussell zu unterhalten, um sich gegenseitig für ihr Wissen zu beliefern.

Da reisten die Sohäulis an und reisten ebenso wieder ab und alles blieb beim alten in der Mauerstadt, damit auch noch die letzten pfiffigen Geschäftsleute mit dem Empörungstourismus ihre Geschäfte machen konnten zu ihrem eigenen Wohle.

So nun die Sohäulis sich an den Klagemauern gerne bedienen ließen - hatten sie sich doch mit diversen Finten zu ihrem Stande vornehmlich hochgearbeitet mit willigen Kräften -, machten es ihnen überdies eifrige Stadies (= Staatsdiener) zupaß, das Mauerdilemma in West-Berlinum auf vierundzwanzig Stunden abklappern zu können mit gemütlichen Kaffeepausen dazwischen. Dabei griff ihnen noch die Geheimdiplomatie unter die Arme. Denn, zu Besuchszeiten der Sohäulis wurde die ungeschriebene Vereinbarung getroffen, daß niemand bei Fluchtversuchen aus dem Osten unter ihren Augen erschossen werden durfte. Das Blut ließ man an den Fingern anderer kleben.

Da ging dann das Besuchsprogramm für die Sohäulis folgendermaßen in die Organisation über für vierundzwanzig Stunden ihres hierseitigen Daseins: Der Staatsoberhäuptling Alpha aus Psi trifft um elf Uhr auf dem Flughafen Te mit seiner Böingmaschine ein. Dort wird er von dem Regierenden Bürgermeister Beta, dem Parlamentspräsidenten Gamma, dem Stadtkommandanten Phi un den Protokollchefs Tau sowie den allierten Militärbehörden ganz anständig begrüßt. Anschließend unternimmt Alpha in Begleitung von Beta eine Stadtrundfahrt, über den A-Damm und die C-Straße fährt die Wagenkolonne zunächst in das Em-Viertel zur Hochhausmassenbesichtigung. Von dort geht es über die De-, E-, E- und G-Straße zum Brandenburger Tor, wo Alpha gegen 12 Uhr von einer Plattform in den Ostteil der Stadt sehen wird. Anschließend führt die Route über die H-Straße in das E-Viertel und dann weiter über den Z-Stern an der Siegessäule vorbei. Ungefähr um zwölf Uhr dreißig fahren die Sohäulis am Zoo vorbei über die I-Straße zum Hotel Omega, wo eine kurze Ruhepause vorgesehen ist. Um 13 Uhr 30 tragen sich Alpha und seine Frau Zeta in das Goldene Buch von West-Berlinum ein. Sodann gibt der Regierende Bürgermeister Beta ein Essen in der Eichengalerie aus für den Sohäuli und die Stadies. Bei einem Mocca im dortigen Kaminzimmer wird dann anschließend für den Sohäuli-Gast ein 15teiliges Kaffeservice aus der Serie Bleu Morant von der ortsansässigen Kappa-Pi-Manufaktur zum Mitnehmen bereitgestellt. Nach einer kurzen Mittagsruhe beginnt der zweite Teil der Stadtrundfahrt, bei dem Beta vom Parlamentspräsidenten Gamma als Stadtführer abgelöst wird. Sodann fährt die Kolonne der Sohäulis mit ihren Bediensteten erneut über die E-Alle zum Z-Stern. Auf dem Reichstagsgebäude machen sie wiederum einen Blick auf den Ostteil der Stadt über die Mauern hinweg. Dabei ist auch der Stadtkommandant Phi anwesend. Alsdann geht es durch die K-Straße zum Checkpoint Charlie, wo die Wagenkolonne kurz anhalten wird, um einen Blick auf die Grenzdurchfahrtskontrollen zu werfen. Die Rundfahrt führt dann weiter über K-Berg und den M-Platz zum Platz der Luftbrücke. Ein längerer Aufenthalt ist dort im Hungermuseum vorgesehen, wo die Westler den Osten mit Radaranlagen ausleuchten. Die Rückfahrt zum Hotel führt dann über die D-Allee zum Hotel. Dort ist wiederum eine Ruhepause vorgesehen, die um 16 Uhr beginnt. Am Abend ist dann der Sohäuli mit seiner Zeta Gast einer Festaufführung des Balletts in der D-Oper mit Heb-das-Bein-nochmal als Gast. Nach der Vorstellung wird er in die Präsidentensuite des Hotels Sigma verbracht, von wo er anderntags um elf Uhr wieder abfliegt in sein Heimatland.

Doch, nichtsdestotrotz hatten die Bullen ihre Finger noch im Spiel, damit nichts Unvorhergesehenes mit dem Sohäuli passierete, weil er doch nur zum Besuche da war. Also gaben sie noch die Befehle dazu aus zum Verhalten in West-Berlinum: An den Fahrstrecken der Besuchskolonne ist aus Sicherheitsgründen ein Halteverbot angeordnet. In den Verbotszonen abgestellte Fahrzeuge werden in jedem Fall von der Polizei kostenpflichtig abgeschleppt. Lassen Sie an den Besuchstagen keine fremde Personen in Ihre Wohnräume ein. Auch nicht gegen Entgelt. Geschäftsinhaber werden gebeten, besonders auf verdächtiges Verhalten von Kunden zu achten. Es muß auch auf Personen geachtet werden, die Kartons, Gepäckstücke oder sperrige Güter abstellen, in denen sich beispielsweise Sprengstoff befinden könnte.

Da ging es mir durch den Kopf, daß ich noch für mein Entgelt zum Glück ein Dach über meinem Kopf haben dürfte, so lange es noch hält.

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