Der Erste Mai. Jomai, jomai! Seit neunundneunzig Jahren der Internationale Feiertag der Arbeiter. Da bist du noch als Arbeitsloser stolz drauf, weil Du mal im Arbeitsprozeß gestanden hast. Nur lassen sie Dich jetzt dafür links liegen, da keine Arbeit mehr von Dir verlangt wird.
Ich arbeitete. Du arbeitetest. Sie arbeitete. Er arbeitete. Wir arbeiteten. Ihr arbeitetet. Sie arbeiten.
Wie lustig: Olle Adolf ist vor neunundneunzig Jahren geboren, seit neunundneunzig Jahren haben wir den Tag-der-Arbeit und vor fünfundfünfzig Jahren hat er uns das gesetzlich beigebracht, der Führer, daß wir dann immer frei haben am Ersten Mai. Jetzt haben wir den Feiertag immer noch. Nur den Führer wollen wir nicht mehr haben. Sein Leichnam hat noch niemand nicht gefunden und der Feiertag ist immer noch nicht abgeschafft.
Eigentlich ist jeder Tag ein Tag-der-Arbeit. Wir wollen den Tag-der-Maschine, damit wir uns im Glück des arbeitsfreien Paradieses sonnen können. Der Roboter soll dem Unternehmer Wohlstand bringen. Nur: Kriegen wir dann alles geschenkt? Womit sollen wir dann seinen Wohlstand bezahlen?
Und vor siebenunddreißig Jahren haben uns die demokratischen Volksvertreter von den hinterbliebenen Faschisten die Daumenschrauben noch fester angezogen per Gesetz: Wenn Du einen Tag vor oder nach dem Ersten Mai blau machst, kriegst Du den gesetzlichen Feiertag nicht bezahlt. Wer soll sich auch vom Feiern denn erholen?
Das trifft nu heute fast nich gerade zu. Gestern war Samstag gewesen, da hat ein privilegierter Arbeiter sowieso frei und am Sonntag dazu. Da muzst Du Dich halt heut vor dem Montag in acht nehmen. Da muzst Du am Montag auf Deiner Arbeit erscheinen zum Arbeiten. Das ist dann wie bei Ostern, Pfingsten und Weihnachten, weil die Kirche mit der Staatsgewalt einen Staatsvertrag geschlossen hat.
So wollen sie uns im Leben und im Glauben zu einer Macht zwingen, damit wir ihnen hörig sind.
Heut nun am Ersten Mai ist der Sonntag. Der Sonnenball bescheint uns von Vieruhrvierundfünfzig bis Neunzehnuhrfunfundvierzig. Und danach zieht der Vollmond am Nachthimmel auf. So steht es im Kalender.
Um neun Uhr bin ich nun an diesem Tage aufgestanden, weil ich den Tag-der-Arbeit genießen wollte. Und wenn ich aufstehe, schalte ich erst mal die Glotze an. Dann brauch ich nich ausm Fenster zu gucken, um zu sehen, was draußen los ist. Das bringen mir die Fernsehfreaks per Makrowellen und Strom ins Haus. Da muß ich nur den Schalter von Aus auf Ein betätigen und schon flimmert mir die ganze Welt entgegen.

Ich weiß nicht, wie es geschah. Auf jeden Fall war der erste Ostprogramm da im Flimmerbild. Große Erste-Mai-Parade auf der Karl-Marx-Allee. Erich Honecker steht mit dem ganzen Zentralkomitee auf der geschützten überhöhten Tribüne rum. Auch Egon Krenz hat es nach den ganzen Streitereien wieder bis zum Standpunkt in der ersten Reihe geschafft. Erich winkt seinem kontrollierten Volk abwechselnd mit dem rechten oder linken Arm zu, weil er nicht dauernd einen Arm hoch halten kann. Ich hab mir schon gedacht, daß er da nen Holzarm hochhält mit ner Stütze drunter. Das kann man nicht so genau feststellen, weil die schußsichere Tribünenbalustrade den in der ersten Reihe Stehenden bis fast zur Brust geht. Und mindestens zwei Stunden dauert der Vorbeimarsch des gemeinen Volkes.
Martin erzählt mir, daß er für seine Schule Parolen von den Erste-Mai-Transparenten abschreiben soll. Sage ihm: "Da nimmst Du am besten welche ausm Osten, die hat bestimmt keiner in Deiner Klasse." Schreibend sitzen wir vor der Flimmerkiste, während Honni immer noch mit seinem Holzarm von der Tribüne runterwinkt. Auf bunten Tüchern, Fahnen und Papptafeln steht: "Berlin Stadt des Friedens, Treffpunkt der Welt für eine kernwaffenfreie Zone", "Weiter von Null-Lösung zu Null-Lösung", "Unverbrüchliche Freundschaft mit dem sowjetischen Brudervolk", "Lernen für den Frieden", "Nicht nur Unter den Linden, überall sind wir zu finden", "Berliner denken sich nanu, und legen noch nen Zacken zu", und, und, und ...
Sprüche von Rosa Luxemburg fehlen in diesem Jahr. Die Gedanken der Herrschenden sind nicht die des Volkes. Wenn die Schwierigkeiten übersteigert werden, kommen sie zu einer besseren Lösung.
Vor der ZK-Tribüne steht einer vom Stasi und hebt die Kinder mit den Fähnchen und Blumen einzeln zu Erich hoch. Sonst ist alles abgesperrt, damit keiner die Bonzen angreifen kann. Alles kontrolliert. Alles überwacht. Alles ausgesucht. Der Bildmischer vom Fernsehen zeigt nur lustige Glückliche. Und alle sind unterwegs.
Da will ich auch wohl unterwegs sein mit einer gesunden Portion in meinem Gehirn. Dazu verhilft mir vorzüglich das weichgekochte Ei zum Frühstückskaffee. Eine Grundlage muß sein. Sonst frißt sich der Magen durch die Hypophyse.
Entlang der Mauer radle ich durch Müll, Glasscherben und wildwuchernde Natur von Grenztürmen beobachtet zum Reichstag aus Kreuzberg hinaus. Dort treffen sich in traditioneller Manier die Gewerkschaften zum Ersten Mai.
Um Zwölfe gehen die meisten schon nach Hause und strömen mir vereinzelt entgegen. Die Entlastungsstraße ist noch gesperrt. Da kannst Du auf ner sechsspurigen Autostraße lustig zwischen den Zufußgehenden einher radeln. Da helfen uns sogar die Bullen dabei, die jedoch mit Schäferhunden nebenbei das Sowjetische Ehrenmal am Brandenburger Tor gegen Fremdangriffe abgeriegelt haben. Wer will denn noch die Panzer haben, die da zur Erinnerung rumstehen? Wahrscheinlich will die Staatsgewalt hier die Geister trennen, damit der Zoff aus der Vergangenheit nicht in die Gegenwart rüberschlägt.
Im Hinterhalt des Reichstages stehen zahlreiche Wannen, auch GruKraWa's genannt. Bei der Staatsgewalt ist das die Abkürzung für Gruppenkraftwagen der Polizeibeamten, wo jeweils mindestens acht schlagende Beamten im Vollzug drinsitzen und in der Maihitze für ihren Auftrag geschmort werden.
Manchmal trinken sie da drinnen auch eine Flasche Geistiges oder mehrere, um im Einsatz lustiger zu sein. So können sie sich dann besser nicht mehr daran erinnern, was sie getan haben. Ich meine natürlich die in den Wannen, nicht die im Reichstag. Das wäre ja noch schöner, wo doch da an dem Gebäude dransteht "Dem deutschen Volke".
Vor dem Reichstag nun, wo wir kein Reich mehr haben und wo sich alljährlich die Gewerkschaften zum Ersten Mai treffen wie auch dieses Mal, waren nur die Wenigsten gekommen. Schon um die Mittagszeit bauten sie die Lautsprecheranlagen für die geschwungenen Reden ab. Der ganze Mittelplatz zeigte sich als leere Grasfläche. Nur ringsherum standen noch die Kebap- und Fallafalstände in ihren brutzelnden Qualmwolken, umlagert von essenden Gewerkschaftsfamilien mit ihren Kindern. Die rote Nelke als Anstecknadel will sogar für sich noch ne Mark haben.
Da darf man sich gar nicht ausrechnen, wie satt die Gewerkschaften durch ihre Mitgliedsbeiträge sind. Da soll dann auch noch die Rote Nelke aus Kunststoff die Knete bringen. Ja, immer die gleichen Sprüche: "Endlich mal ein Kollege, der was macht!" Nur, wenn's los geht, ist der Funktionär auf ner Schulung.
Ja, früher. Da ist hier noch Heino aufgetreten und hat die "Schwarze Barbera" gesungen. Und der Appel ist aufm Elefanten geritten, weil er Regierender von Berlin werden wollte. Der Elefant im Porzellanladen. Aber das hat ihm auch nicht viel geholfen, weil Vogel das auch schon mal wollte. Der hing dann überall die Werbeplakate für sich auf: "Vogel für Berlin". Da war dann über Nacht seine Parole von Fremdhand verändert worden, so daß dann zu lesen war: "Vogel vögelt für Berlin". So sah der Vogel ein, daß er nicht mit Berlin vögeln kann und ließ seine Werbung wieder einsammeln. Und dann wurde der Diepgen zum Regierenden gewählt.
Ganz Unverfrorene schrieben dann sogar noch an die Hauswände "Diebgen" und "Harald Juhnke for President". Denn was das Volk erschwert, ist den Oberen was wert, wenn's ihnen nicht an den Kragen geht. Die kaspern doch nur unverfroren für die Wirtschaft rum.
Wo soll man hier Transparente und Parolen abschreiben, wenn alle beim Essen und Trinken sind? Oh, wie gut geht's uns.
Neben mir steht einer auf dem Reichstagssportfeld vor dem Reichstag "Für das deutsche Volk" rum und quatscht was in sein Mikrofonfunkgerät. Er unterhält sich gerade mit seinen Senderunternehmern: "Soll ich noch hier bleiben? Hier ist nix mehr los! Will noch nach Kreuzberg! Und im Olympiastadion spielt heut noch Hertha! Die gewinnen vielleicht Zehn zu Null!" Sehr hektisch drauf ist dieser Reporter. Eigentlich nicht geeignet für ne eingeschlafene Gewerkschaftsdemo, denke ich in meiner Hypophyse. An seinem Auto daneben steht groß dran: "Radio 100,6". Und irgend so ein Videofreak nimmt das noch alles auf mit dem Reporter seinem Auto und mir im Bild. Da will ich aber nich drauf sein und suche deshalb lieber das Weite.
In Kreuzberg gibt’s auch noch nen Ersten Mai l Verlasse also diesen grauenvollen Ort, um mir das nächste Grauen anzusehen beim Kreuzberger Mai.

Mein Weg führt mich per Fahrrad vom Reichstag weg wiederum an der Mauer entlang nach SO 36. Niemandsland zwischen Absperrung und Betonplattengrenze. Ebertstraße. Hindenburgplatz. Platz vor dem Brandenburger Tor. Aus dem Straßenpflaster sprießen die jungen Birken hervor. Baumwurzeln treiben den Asphalt zu Buckeln auf. Verschiedenste Pflanzen, im Volksmund Unkraut genannt, treiben aus den Ritzen raus der Sonne entgegen.
Vom Wachturm schreit nen Grenzer runter: "Fahr da raus!" Da blieb mir nichts anderes übrig, als ihm freundlich zuzurufen: "Komm doch rüber!"
Auf den angerosteten Westgerüstrohrtribünen stehen die wohlbestallten Touristen der Freien Welt, um einen lächerlichen Blick in den Osten zu ergattern. Die Fotoapparate klicken bildgerecht mit automatischer Entfernungseinstellung. Alle in die selbe Richtung. Liegt da Nofretete in der Badewanne? Die Touristenbusse verladen die Leute zu jedweder Lustbarkeit auf den heruntergekommenen Osten. Welch ein Geschäft. Oh, laßt die Mauer stehen für die Safariparkbesucher!
War hier doch mal einer gewesen, der hat hier gesagt: "Reißt die Mauer ein!" Ein Filmschauspieler, den sie zum Präsidenten gewählt haben in einem weit entfernten Land. Wenn Du da mal hinfliegen willst, ist der Dienstag ein Mittwoch. Und wenn Du zurückkommst, ist der Mittwoch ein Dienstag. Paß auf, wenn Du dann Geburtstag hast, dann hast Du nämlich keinen.
Es ist nicht zum Lachen. Erich läßt noch immer auf die hier Flüchtendem aus dem volkseigenen Betrieb schießen. Warum sind die Uniformierten immer Erfüllungstäter?
Weiter an der Mauer entlang. Die Tiergartenbäume greifen die Grenze an. Spaziergänger wandeln unter dem Blätterdach. Wild wuchernd wächst die Natur. Nachtigallen singen ihre melodischen Weisen mit Crescendo. Ihr Nest- und Revierkampf ist noch in vollem Gange. Der Zaun am Lennedreieck klafft auseinander für ne Durchfahrt auf nem Trampelpfad durch eine üppige Wildnis, die noch mauerlos dem Osten gehört. Die wilde Vegetation hat hier die Geschichte ins Kraut geschossen. Wohnte doch hier in der Lennestraße Adolfs gemeinster und schärfster Richter Roland Freisler vom Volksgerichtshof. Spielten hier doch die Literarischen Kabarette Die Bösen Buben und die Katakombe in der Bellevuestraße drei.
Potsdamer Platz. Die Mauer quer über die Straße. Andenken- und Pommes-frites-Buden in Reih und Glied von Verbrauchern umlagert. Reichlich Rummel hier in der warmen Maisonne. Dicht an dicht die Reisebusse. Touristen über Touristen in bunten Farben wogen hin und her. Die Aussichtsplattform zum Blick nach Drüben ist vollgepfropft mit Gaffern in luftiger Höhe. Wann bricht der angerostete Hochstand zusammen? Das wäre aber ein tiefer Fall für die Piepels.
Baccardi von der russischen Tag & Nacht-Kneipe erzählte mir mal, daß sich da einer nen Turm gebaut hat, um den Kommunismus zu sehen, nein, eher zu sehen, wenn er kommt. Der sitzt da heute noch drauf. Nicht Baccardi. Er spricht als Leningrader fließend Deutsch, liest mit der Praline die BILD-Zeitung und betäubt die Alkis mit Bier und Schnaps für seinen Verdienst.
Immer weiter hart an der Mauer entlang. Stresemannstraße. Hinter ner Hecke tollen Schäferhunde auf nem Vereinsübungsgelände umher. Die Kommandos der Abrichter "Faß zu!", "Hol her!", "Bei Fuß!" dringen durch die grünen Büsche.
Niederkirchner Straße. Der Gropiusbau. Die heiligen Hallen der hehren Kunst für das aufgeklärte Bürgertum. Daneben das ausgegrabene Gestapogelände. Keiner will's gewesen sein.
Wilhelmstraße. Zimmerstraße. Ausgebrannte Autowracks. Die Wall-Street-Gallery bastelt an der Mauer rum. Der Abstand zwischen Antifaschistischem Schutzwall und den Häuserwänden beträgt hier nur Dreimeterfuffzig.
Friedrichstraße. Checkpoint-Charlie. Ein Jemand protestiert mit einem umgehängten Plakat für etwas, was er noch im Osten hat. Junge Amis unterwegs mit Kameras und Eisschlecken. Wenig Verkehr von West nach Ostostwest. Die Alliierten Kontrollettis stehen gelangweilt vor ihrer Baracke rum. Die Pommesbude verkauft sogar hier erotisierende, nein, amortisierende Getränke, das sind Vitaminsäfte, und tauscht den Dollar für ne Markfünfzig. So steht’s da dran.
Und immer weiter hart an der Mauer entlang um den Springer sein Hochhaus rum. Das ehemalige Zeitungsviertel. Der Ullsteinverlag zeigt die Tagestemperaturen mit der Uhrzeit an. Zwölfuhrachtundvierzig.
Oranienstraße. Die Bundesgeldscheinverdruckerei. Abgesichert mit Mauern, Stacheldraht und Gitterstäben. Grau Uniformierte kontrollieren die Ein-und Austrittsöffnungen. Gegenüber der Getränkemarkt für die Bundesdrucker. Ob die am Ersten Mai auch noch Geldscheine drucken für ne Feiertagszulage? Der Bundesadler überm Eingang wird schon darüber wachen.
Moritzplatz. Der Kreisverkehr für den Osten. Da dürfen die Bundesbürger mit den Berlinern zu Erich rüber, wenn's genehmigt wird.
Oranienstraße weiter bis zum Oranienplatz. Hier trifft sich der Kreuzberger Erste Mai. Doch, halt! Gleich an der ersten Oranienplatzampel stehen schon die grün berockten Ordnungshüter rum und verteilen an die Vorüberkommenden eigene Flugblätter. Schreibmaschinenblattgroß. "Infos zur 1. Mai Demonstration" steht dick oben auf dem Flugblatt drauf. Und "Demo ohne Zoff ist großartig / Alles andere ist Quark / Meinung sagen / Spaß haben / Solidarität üben / Toleranz statt Arroganz / Akzeptanz statt Militanz / SO 36 / Herausgeber: Der Polizeipräsident von Berlin." Dann ist da noch nen Foto von ner Kreuzberger Hausfassade drauf mit nem wippenden Kind und ein schöner Polizeistern, hinter dem eine hübsche blonde Polizistin hervorlugt. So ein freundlicher Empfang ist aber ungewöhnlich. Hoffentlich wird das nicht zu bunt hier, wenn die Staatsgewalt so freundlich anfängt. Da haben sie noch das Papier bezahlt für das große Flugblatt. Die Druckerei gehört ihnen sowieso.
Jedoch bedachte ich da bei mir: "Freunde tun mehr Not, als Feuer, Wasser und Brot." Denn, fromme Leute wohnen weit auseinander.
Dieses nun mir freundlich überreichte Flugblatt von den grünberockten Beamten, die dazu befugt sind, Gesetze zu vollziehen, wendete ich mit meinen beiden Händen um und bestaunte die Rückseite mit meinen beiden Augen.
Jetzt wurde die Sache wesentlich ernster, die ich hier nicht abbilden will, weil sonst der Umfang der Geschichte gesprengt werden könnte. Stand doch da schwarz auf weiß: Wenn es auch Ihrem Selbstverständnis entspricht, friedlich zu demonstrieren, dann brauchen Sie eigentlich nicht weiter zu gehen [Das hab ich verkehrt gelesen. Da steht in Wirklichkeit:] dann brauchen Sie nich weiter zu lesen. Doch trifft das auch für Ihren NACHBARN zu?

Nun wurde mir in meinem Kopf ganz schwindelig, als ich an meine Nachbarn dachte, weil so viele um mich herumstanden, einschließlich der Grünberockten. Wer ist denn mein Nachbar? Die oder die, die neben mir stehen? Die oder die, die mit mir in der gleichen Straße wohnen? Der oder die, die mit mir im demselben Hause wohnen? Die oder die, die mit mir die gleiche Sprache sprechen? Oder die oder der, der mit den gleichen Scheinen bezahlt?
Da mich nun bisher das Wissen nicht so sehr interessierte, weil es mir mehr um das eigene Leben ging, denn wer hängt schon gern am anderen Strick, hatte ich mir auf dem Trödelmarkt mal einen Duden gekauft. Dort kriegst Du das Wissen am billigsten, wenn Du was wissen willst. Und für den Notfall muß auch der Dümmste was wissen.
Also: Hab ich da nachgeschlagen unter dem Wort Nachbar in dem Duden für ne Mark, wo dann ein jeder lesen kann, wie ich, der nicht weiß, was ein Nachbar ist:
Nachbar: der Garten des Nachbars, Nachbarn; Nachbars Garten; einen neuen N. bekommen; Nachbarn werden; mit dem N., mit Nachtbars verkehren; bei Nachbars; Herr Nachbar! (fam. Anrede bei unbekannten Namen); unser westlicher Nachbar. -Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen N. nicht gefällt (Seh.). Nachbarin, euer Flaschen! (G.). Nachbar siehe Anwohner, Mann, Nebenmann, scharf wie Nachbars Lumpi, begierig.
Mit diesem Wissen besah ich nun wiederum mit meinen Augen die mich Umstehenden an, um ihnen meinen Rücken nicht zu zeigen, denn ich stand ja unter ihnen. Ratlos las ich weiter:
Ihr Beitrag
- Wirken Sie mäßigend oder distanzieren Sie sich schon bei beginnender Gewalt!
- Erläutern Sie Ihrem Nachbarn, daß es auch ohne "Zoff" geht.

Unser Beitrag:
- Schutz Ihres Grundrechts auf Versammlung und zwar OHNE WENN UND ABER,
- Ausnutzen des Ermessensspielraumes, wo immer es geht,
- Entschlossenheit, Gewalttaten gegen Menschen und Sachen nicht zu dulden,
dies gilt auch für die Vorbereitung von Gewalt, die Vermummung.
Bei - Waffen - Brand - Zerstörung endet jede Toleranz.

Nun wurde mir beim Lesen mein Haupt noch schwindliger und ich begann, die Fronten zu verwechseln. Mit dem Text sollte man mal ein Flugblatt an die Staatsgewalt schicken, die uns alle vier Jahre nur fragt, ob vierzig Prozent von uns sie wählen wollen. Ich bin auch entschieden entschlossen dazu, Gewalttaten gegen Menschen, Sachen und sogar Tiere und Pflanzen nicht zu dulden. Laßt den Krieg sein!
Der Rest des staatlichen Flugblattes brachte mir den totalen Schock mit Zuckerbrot und Peitsche. Folgte doch da eine immense Aufzählung von strafbaren Handlungen mit Aufzählung von Paragrafen, die keiner eigentlich niemals unternehmen will, wenn er nicht zu Geld und Gut kommen will. Den Kommentar dazu muß ich leider fallen lassen, weil er der Worte zuviel ist der Umstände wegen. Ich ließ meinen rotierenden Kopf zur Ruhe kommen und las mir den Schluß des staatlichen Flugblattes durch:
Für die, die es noch nicht wissen und zum Weitersagen, ein kleiner Exkurs durch die Rechtsnormen: § 777 StGB: öffentl. Aufforderung zu Straftaten / § 123 StGB ff.: Hausfriedensbruch / § 725 StGB ff.: Landfriedensbruch / § 223 StGB ff.: Körperverletzung / § 240 StGB: Nötigung / § 303 StGB ff.: Sachbeschädigungen / § 306 StGB ff.: Branddelikte / § 2 VersG: Störungs- und Waffentrageverbot / § 17a VersG: Schutzwaffen- und Vermummungsverbot / Der Polizeipräsident in Berlin.
Oh, ihr Gerechten im Abendland: Wo Strafe, da Frucht; wo Friede, da Zucht. Oh, ihr Gerechten im Abendland: Gebt uns doch den Wasserwerfer zur Zucht und den Knast zur Frucht.
Des Lesens war es mir jetzt genug, weil ich nicht wissen wollte, wie glücklich die Staatsgewalt ist, zumal ich nicht weiß, wie es um ihr Haus steht, wenn sie ihre dummen Knechte beschäftigt für einen guten Batzen in deren Tasche.
Da ist es mir schon lieber, wenn der kluge Knecht die Worte seines Herrn zwar hört, aber nicht danach tut und lieber seiner eigenen Weisheit folgt.
Also stand ich hier am Oranienplatz rum und blickte meine rumstehenden Nachbarn an.
Viele junge Leute in buntester Couleur. Neben mir englisch Sprechende. Lachen darüber, daß das Bier hier so billig ist. Wounderfull. Ne Büchse für ne Mark und auch noch vom Türken gekühlt aus der Kebapbude. Vor mir ein schlankes Mädchen mit nem eingerollten Transparent, nur die Farbe Schwarz ist zu erkennen. Auf der Mitte von der Straße singt ein Betrunkener: "Wir fahr’n nach Osten, wir faharn nach Westen, doch im Westen ist’s am Besten ..." Da frage ich ihn: "Warum singst Du solche liederlichen Lieder?" Und er antwortet mir sogar: "Warum demonstrieren? Euch gehen gut! Warum?"
Ich wußte nun auch nicht, was ich darauf antworten sollte für den Singenden. Er war auch so mit sich selbst beschäftigt, daß die Möglichkeit bestand, daß er nicht wußte ob seines trunkenem Stadiums, wo er sich jetzt befindet.
Nur, ich stand hier immer noch am Oranienplatz rum, wo sich mittlerweile an die vier- oder fünftausend Peoples versammelt hatten. Da kam das Deutsche Volk von den Gewerkschaften am Reichstag nicht mehr mit, da sie weniger waren in ihrer mit den Mit-Gliedern versammelten Gesellschaft.
Jedoch: Soll ich den die ganzen Umstehenden davon überzeugen, daß hier keine Gewalt abläuft, weil ich laut Flugblatt mäßigend auf meinen Nachbarn einwirken soll?
In meiner Umgebung schreit einer: "Das machen wir!"
Ist ja gut. Ich kann das doch gar nicht schaffen, alle hier zum Hausfriedensbruch zu überreden. Da reicht nicht mal mein Leben dazu. Auch nicht zum Landfriedensbruch. Immerhin hab ich noch nen Behelfsmäßigen Personalausweis bei mir, der bis zum zweiten Juni gilt für die Kontrollettis. Da kann ich mich wenigstens ausweisen, ohne etwas zu sagen.
Kopfrechnung. Ich habe ein halbes Jahrhundert in meinem Leben hinter mir und weiß nicht, wie lange es noch weitergeht mit dem Leben. Fünftausend Menschen stehen um mich herum, die ich vom Hausfriedensbruch überzeugen soll. Für jeden brauche ich zehn Minuten, damit sie/er es kapiert. Das macht ununterbrochen hintereinander 833 Stunden oder 35 Tage, ohne zu schlafen. Also Tag & Nacht.
Wie soll ich das schaffen hier am Ersten Mai aufm Oranienplatz? Dann ist die Demo doch schon längst zu Ende! Helfen mir da die Bullen denn weiter?
Das kann sich ja noch alles entwickeln. Schlägt doch die Staatsgewalt oft unberechenbar zu mit Hilfe ihrer verdeckten und bezahlten Provokateure in den eingeschleusten Reihen des gemeinen Volkes auf der Straße. Denn: Wer da bauet an den Straßen, muß auch die Leute reden lassen.
Die meisten Erste-Mai-Menschen stehen hier locker rum, liegen auf dem Gras des Oranienplatzes und den begrünten Verkehrsinseln. Frühlingshafte Farben sprießen ringsumher aus Mensch und Natur. Aus nem Lautsprecherwagen tönen irgendwelche unverständliche Reden auf deutsch und türkisch. Da kommt nicht mal ne lustige Musik durch die Luft geflogen. Alle stehen, sitzen und liegen beim Warten herum. Ja: Wer den Ernst macht, dem will jeder seinen Sack auflegen.
Um ein Uhr sollte die "revolutionäre" Erste-Mai-Demo beginnen. Jetzt ist es fast zwei. Und noch nix ist in Gang gekommen. Immer die alte Leier: Erst wenn alle richtig drauf sind mit den gehirnverändernden Mitteln geht die Feier richtig los. Klar, das ist ja auch gar nicht alles anders zu ertragen, ist die Meinung derjenigen, die es machen.
Am Boden liegen weggeworfene und zertretene Flugblätter rum: "Schwarz-Rote Perspektiven. Kein Staat mit diesem Staat." blickt Dich in großen Lettern aus dem Straßendreck an. Und da hab ich dann mal welche von den Blättern aufgehoben, die da so herumlagen.
"Dieser Beitrag wurde von Kolleginnen und Kollegen von Solex geschrieben, die ihn nicht selber vorlesen, da sie sonst gekündigt werden und aus der Gewerkschaft fliegen." Es geht dabei um Samstagarbeit, Drei-Schichten-System, Arbeitslosigkeit, Frührente, Vertrauensarzt, Mietspekulation, Sozialamt, und so weiter. Der Kalte Kaffee von gestern für morgen. Oh: Laßt uns die Parkbänke an die Frührentner vermieten.
"Der Geheimdienst-Prozeß. Die Verwicklung des Staats- und Verfassungsschutzes in den Fall Schmücker." Der Zweite Juni. Benno Ohnesorg. Nu hat er ausgesorgt, weil er tot ist, der Ohnesorg, meinen die, die mit der Staatsgewalt übereingehen. Da gehen dann eben die Proteste zu Grunde. Mittlerweile ist die ganze Bewegung gestorben.
Und dann lag da noch nen Doppelblatt von der "Roten Hilfe" am Boden rum: Solidarität ist eine Waffe. Der Alltag als Depression. Hilft's nichts, so schadet's was.
Der Blätter liegen so viele rum. Wer zählt ihre Namen, nennt die Parteien beim Amen? Es gibt sogar eine Agentur für die Selbstaufhebung des Proletariats. Viel predigen macht den Geist müde.
Der Demonstrationszug formiert sich langsam im Schlauch der Häuserschluchten in Richtung Heinrichplatz. Irgendein Ordnungstrieb ist ihnen inne, so daß sie sich langsamen Schrittes auf der Straße voranbewegen. Aus einem Lautsprecherwagen dröhnt wieder schrill eine unverständliche Stimme. Aus den Seitenstraßen fahren die Wannen der Kampfbullen auf. Da hat Mercedes sogar sein Scherflein an den Wannen verdient. Und wiederum andere Bullen schreiten gewichtig in Kampfuniform mit Kampfhelm, Nackenschutz und Plastikschildern auf dem Trottoir herum. Kampferprobte Gruppenleiter dirigieren die Bullen in der Einsatzlage mit quiekenden Funkgeräten.
Aus den Wohnungsfenstern hängen hier und da Lautsprecherboxen raus mit irgendeinem Punksound. Es geht voran. Irgendwo sind auch Die Toten Hosen zu hören.
Wohl an die vier- bis fünftausend Leute ziehen mit Transparenten, Fahnen, Lautsprecherwagen, Musikinstrumenten und Kindern dahin. Die Moleküle des Auflaufs bewegen sich langsam mal dichter und dann wieder lockerer voran. Es gibt immer einen Grund zur Verzögerung. Das ärgert dann auch meistens die Bullen, weil sie dann nicht wissen, wie es weiter voran geht, obwohl die Route vorher mit der Demonstrationsleitung abgesprochen worden ist.
Am Görlitzer U-Bahnhof spricht mich ein Jemand an: "Wozu der ganze Lärm hier? Euch geht's doch gut!" Er sucht seinen Sohn und will wissen, wo der Lausitzer Platz sich befindet. Zeige ihm die Richtung und sage ihm, das müsse alles so sein, wenn viele Menschen auf einem Flecken wohnen. Denn wenige wollen sich immer an vielen bereichern und das ginge auf Dauer nicht. Er versteht das nicht und geht kopfschüttelnd in die angegebene Richtung, um seinen Sohn zu finden.
Die Revolutionäre-Erste-Mai-Demo nimmt kein Ende und zieht über die Wiener in die Ohlauer Straße. Die wohl an die hundert schwarz Vermummten im Schwarzen Block haben sich ringsherum mit einem dicken Seil abgesichert, das die Außenlaufenden in den Händen halten, damit keiner von den Bullen herausgegriffen werden kann. Ein laufendes umseiltes längliches Rechteck. Wieviel vermummte Zivis da wohl drin mitlaufen?
Alle sind friedlich und lustig drauf. Die Bullen und Bullinnen halten sich mächtig zurück. Die Sonne in dem klaren Himmel verschafft uns eine angenehme sommerliche Frühlingswärme. Peter, Kalle und Dieter grüßen vom Straßenrand herüber. Guten Tag. Guten Tag! Wie geht's? Komm doch mal vorbei!
Da mir nun die vielen Leute zu langsam vorangingen, überholte ich die Zugspitze Abkürzenderweise und begab mich über die Bürknerstraße, die Schönlein und die Dieffenbachstraße zum Tag & Nacht am Zickenplatz, der eigentlich Hohenstaufenplatz heißt, der Volksmund aber diese Bezeichnung nie angenommen hat. Dort soll das Ziel der Revolutionären-Erste-Mai-Demo sein.
Hier herrscht noch friedliche Ruhe vor der schlagenden Staatsgewalt. Türkenkinder spielen freudig auf Rutschen, Drehscheiben, Schaukeln und Seilbahnen im warmen Sand, beobachtet und beaufsichtigt von weiß- und schwarzvermummten dicken Türkenmuttis.
Conny, der Zapper im Tag & Nacht hat zwei Tische aufn Bürgersteig gestellt, weil die angenehme Frühlingsluft sich besser anfühlt als eine dunkle Kneipe mit Nikotin- und Alkoholqualm. DruckerJürgen, Beamten-Marina, der Friedhofs-Manne, der Ostler mit seiner Freundin und der verzweifelte Lehrer-Rainer sitzen lustig angegangen an den rausgestellten Tischen mit den Stühlen. Der Kneipenchef ist weg und der freie Maischnaps wird eingeschenkt. Prost, VEB-Korn. Den holt der Chef immer ausm Intershop, damit er mehr verdient. Die Pulle kauft er für Fünfmarkneunzigwest und schenkt den Schluck für Einemarkundfünfzig aus. Für fünfunddreißig Schlucke kann er dann Zweiundfunfzigmarkfünfzig kassieren und hat Sechsundvierzigmarksechzig verdient. Da haben die Grenzüberschreitenden eben die größere Übersicht, während die eingeborenen Einheimischen das Zeug dann runterschlucken.
Da habe ich mich da nun hingesetzt, weil noch ein Stuhl frei war. Ausm Tag & Nacht röhrte die Musikbox dann brüllend raus: Guten Morgen liebe Sonne / Schwarzbraun ist die Haselnuß / Ich hab ein Bungalow in Santa Nirgendwo / Ich möcht in Deiner Kneipe Zapfer sein, dann schenk ich Dir umsonst was ein ...
Bei der Lautstärke kamen sonst des Tag & Nachts die Bullen vorbei wegen Ruhestörung. Jedoch steht heute vorm Tag & Nacht ein grüner VW-Bus von Bullen rum. Und da steht dran' an der Autoblechwand: PRESSEINFORMATIONSWAGEN. Drinnen sitzen drei ältere Bullen ohne Kampfuniform. Die Schiebetür vom Bulleninformationswagen ist offen. Jedoch will sich keiner informieren. Soll ich mich von der Presseinformation denn erpressen lassen? Da denk ich lieber, laß die da schwitzen und ich bleib hier sitzen.
Ja, jetzt hab ich es genau durchgezählt: Sechzehn Wannen fahren in einer Reihe in der Dieffenbach plötzlich auf. Keiner von den Kampfbullen steigt aus. Alle bleiben in den Wannen sitzen. Jede Wanne ist zu zwölft besetzt. Das macht auf einen Schlag 192 kampfbereite Bullen. In einer langen Reihe parken sie vorm TAG & NACHT an der Straßenkante rum. Was die wohl da drinnen machen? So viele Leute können doch nicht gleichzeitig den gleichen Willen haben? Wehe, wenn die aus den Wannen freigelassen werden! Dann bleibt kein Spaß mehr übrig!
Doch uns stört das vorm Tag & Nacht recht wenig. Irgendeiner von uns zapft drinnen das, was wir draußen trinken und wieder irgendeiner hat drinnen auf der Musikbox gedrückt: Es steht ein Pferd aufm Flur ... Der Sound dringt dröhnend durch die offene Tür nach draußen. Die Stimmung wird hier lustiger und lustiger.
Die Bullen und Bullinnen laufen an uns vorüber in olivfarbenen Kampfanzügen, ausgepolstert von innen wie Eishockeyspieler. Ihre Kampfhelme baumeln angeschnallt an ihren dicken Ledergürteln. Funkgeräte zwitschern hier und da. Und die Amseln trällern auf den Straßenbäumen. Ist ihr Revierkampf noch nicht abgeschlossen?
Aus der Ferne dringen die Schallwellen der Demolautsprecherwagen herüber. Der Kottbusser Damm ist autofrei, weil sich hier der Erste Mai versammelt. Die Laute sind genauso unverständlich wie der Müll auf der Straße. Bierbüchsen, zerschmetterte Flaschen, zertretene Flugblätter, bemaltes Straßenpflaster, gaffende Leute. Man verteilt sich hier für eine Verschnaufpause bis sich alle neu formieren zum Abzug in Richtung Lausitzer Platz.
Vor der Zickenplastik am Zickenplatz mit den kämpfenden Zicken in Bronze liegt noch ein völlig Betrunkener, den die Bullen von rechts nach links drehen und dabei seine Taschen durchwühlen. Mit der gefundenen Personalausweiskarte wird er über Funk überprüft und dann liegen gelassen.
Die Revolutionäre-Erste-Mai-Demo hat sich mittlerweile wieder den Kottbusser Damm runterbewegt, über die Kottbusser Brücke in die Mariannenstraße. Dort fliegen die Scheiben von nem Geldspielsalon scheppernd ein. Von denen gibt's hier in der Gegend mindestens fünfzig. Meistens schmeißen die Glaser bei so ner Gelegenheit selbst die Scheiben ein, um an Geld zu kommen für ihren Geschäftsumsatz.
Wer da mitspielt, braucht nämlich auch Knete. Und: Woher kommt die ganze Knete, wenn die Bank Deutscher Länder nur begrenztes Money rausgibt? Immerhin muß daß Geld ja auch irgendwie gedeckt sein. Was für Sicherheiten gibt es denn da? Oder flippen die da schon auf dem Humankapital rum? Keynes oder Friedman? Geldkreislaufgeschwindigkeit oder Geldtauschgesellschaft? Besser wäre eigentlich ne Naturalientauschgesellschaft: Zwei Bockwürste gegen drei Wodka, oder ein Kotflügel für nen Sack Zement, oder ein Fenster für ne Haustür, oder ein Ehemann für zwei Hausfrauen, oder zwei Amtsgerichtsurteile gegen einen Freispruch beim Landgericht. Einen Einspruch gibt es nicht. Der Rechtsanwalt ist in Urlaub, wir verteidigen uns selber und die Gerichtskasse bezahlt.
So ist es halt, wenn die Enten aufm Landwehrkanal nicht mehr das Brot fressen wollen, das man ihnen ins Wasser wirft. Im Winter ist das anders. Nur ist heute das Andere nicht.
Die Demozöglinge verteilen sich nach und nach um den Lausitzer Platz bei der Emmauskirche. Eine Unmenge an Leuten treibt sich hier schon rum. Wie im Ameisenstaat wimmelt das Gekrabbel.
Infostände, Bücherstände, Freßstände und Saufstände reihen sich in wechselnder Folge am Straßenrand entlang. Treffe niemanden an Bekanntem. Sind das denn alle Zivis oder Senatsangestellte hier? Oder kommen die aus Spandau? Trinke ne eiskalte Büchse Bier für ne Mark aus nem Fahrradanhänger und beäuge die Menge um mich herum.
Alle scheinen im Kreise um die Kirche auf dem Platz rumzuziehen und tun sich an den Ständen gütlich. Einer vor mir zückt gerad nen Fuffi und will damit ne Büchse Bier für ne Mark vom Anhänger kaufen, der damit überfordert wird. Nen Fuffi hab ich selbst schon lange nicht mehr gesehen und der Fahrradanhänger auch nicht.
Neben mir steht ne große Pappplastik eines Monsters auf einen vierrädrigen Wagen montiert wie beim Karneval in Köln. Gierig fletscht es die Zähne, schwingt in der linken Klaue ein Frauenzeichen und in der rechten ein großes "A" im Kreis. Das Ding sah ich schon mal im Demozug beim Revolutionären Mai. Jetzt spielen die Kids dadrauf rum und haben es schon halb zerstört.
Rings um den Lauseplatz dringt laute Musik aus den Fenstern raus: Ska, Punk, Reggae, Rock'n Roll ... Junge Leute blicken mit Flaschen in der Hand aus den Fenstern herab und rufen hier und da Bekannten ihre Wünsche zu. Sogar Hamburger Zimmerleute laufen hier in ihrer schwarzen Kluft rum. Es ist ein Gewimmel und Gewühle.
Vor mir baut gerad ne junge bunte Punkerin nen riesengroßen Pott mit Mohrrübenkartoffelsuppe auf nem wackeligen Stuhl auf. Ein Schlag ne Markfünfzig steht am Pott dran. Der erste Esser kommt mit nem Zwanziger an. Kein Wechselgeld da. Nach kurzem Hin und Her kramt er sein Kleingeld raus. Dafür kriegt er mit ner Tasse aus dem Pott geschöpft nen ganzen Pappteller voll mit Suppe. Und sie ist stolz auf ihre erste Geldeinnahme.
Und hinter mir bauen gerad einige Araber nen großen Holzkohlengrill auf, worauf sie dann die rohen Fleischstücke braun brutzeln. Der Holzkohlenqualm vermengt sich mit dem anderen Qualm auf dem Lauseplatz zu einer großen wohlriechenden appetitanregenden Wolke.
Die Menge, die Massen, der Qualm, die warme Luft, das Gedränge, die Musik und der Erste Mai, das wird mir jetzt alles zuviel. Ermüdet von dem Gesehenen trolle ich mich nach Hause zu einem angenehmen Abendschlaf nach des Tages Lust und Müh und mache einen Tiefschlaf bis um neune an dem Abend.
Jedoch wache ich erst um zehne schweißgebadet auf, ohne mich an meine Träume erinnern zu können, die mein Gehirn zermartert haben. Meinen Hunger ersticke ich mit selbstgeschmierten Stullen: Käse aus der Plastikhülle und zerkleinertes Fleisch aus der Corned-Beef-Dose mit Pflanzenmargarine auf dem pappigen Brot aus der Massenherstellung. Zu mehr reicht es in der täglichen Eile nicht. Die Zeit zum Essen ist eben knapp bemessen, wenn Du die Welt betrachten willst. Denn, wer alle Welt fressen will, muß einen großen Magen haben. Und der gefällt mir nicht.
Also fehlten denn am Ersten Mai noch zwei Stunden, die ich gerne bis zur Neige erleben wollte. Wann kommt solch ein Abend wieder? Der große dicke rotgelbe Vollmond hing niedrig überm Häusermeer. Ob der mit Karotin gefüttert wurde zum besseren Verkauf? Auf jeden Fall lachte er mich an, ohne daß ich mondsüchtig war.
Aufm Kottbusser Damm rasen die Autos mit achtzig vorbei. Aus den offenen Autofenstern dröhnt der Quadrostereohifisound. Die Hundekacke auf dem Trottoir zwingt mich, nicht in sie zu treten.
Auf dem Wege zum Lausitzer Platz bleibe ich im deutschen Araberimbiß an der Ohlauer Straße hängen. Drinnen vor der Theke steht ne Italienerin, die sich mit zwei deutschen Jungs auf englisch unterhält. Das hat uns alles der Turmbau zu Babel eingebrockt in der schönen Bibel. Bratwurstfettgeruch und Diskosound aus dicken Boxen. Der Araberchef rechnet mit der Aushilfe ab, weil sie fünfzig Mark miese gemacht hat. Drei halbe Hähnchen gehen noch aus der Mikrowelle weg. Hier trink ich die Bierpulle für ne Markundfünfzig. Ein Betrunkener redet mit den Deutschen deutsch und mit der Italienerin italienisch. Alles belangloses Zeug. Links von mir reden noch zwei Mestizen französisch. In welcher Sprache denke ich eigentlich? Pidgindeutsch? Nein! Ich denke in elektrischen Strömen: Von Plus nach Minus, von Minus nach Neutrinos und von Neutrinos nach Plusminus. Dann kommt das Gleichgewicht in Gang.
Stecke mir noch ne kalte Büchse Bier in die warme Hosentasche und mache mich auf aus dem arabischen Pommes-Frites-Hähnchen-Bouletten-Imbiß.
Vor der Tür an der Ohlauer bei der Wiener macht mich einer an, der sein Fahrrad sucht. Gut, daß ich meins nicht dabei habe. Bemühe mich, ihm zu helfen. Er: "Das steht am Lausitzer Platz und ich weiß nicht, wo der ist!" Gehe mit ihm in die richtige Richtung. Nur liegt der Spreewaldplatz dazwischen und der ist von ner ganzen Kette eishockeymäßig ausgepolsterter grüner Kampfbullen abgeriegelt und wir wollen da durch.
Also frage ich die Vertreter der Staatsgewalt freundlich: "Wir wollen zum Lausitzer Platz und unser Fahrrad abholen." Die barsche Antwort war darauf: "Hier kommt keiner durch!" Und mit ausgestrecktem Arm weist jener in die Richtung Görlitzer Bahnhof: "Da geht's lang!"
Hier hat es also keinen Sinn. Wir gehen aber nicht da lang sondern zurück zur Wiener und warten. Die Absperrkette der grünen Beamten löst sich auf. So versuchen wir es wieder, wegen dem Fahrrad zum Lauseplatz zu kommen. Jedoch an der Hochbahn bei der Skalitzer geht's nicht mehr weiter. Die Luft ist von Tränengas gesättigt.
Aus dunklen Ecken schießen die Bullen ihre Tränengaskartuschen ab, die zumeist an Häuserwänden sinnlos zerschellen. Denen muß das schon Spaß machen, etwas abzuschießen, was von ihnen wegfliegt. Die scheinen die neue Munition auszuprobieren. Früher kam da nicht soviel Gas und Qualm aus einer Patrone raus.
Die Augen schmerzen und die Nase brennt. Warum soll ich da wegen einem Fahrrad helfen?
Auf der Skalitzer gleich neben der Hochbahn steht nen dickes grünes Wasserwerferfahrzeug mit Räumschild. Daraus schallt locker ne Lautsprecherstimme raus: "He, bring mal deinen Kumpel nach Hause!" Das ist so laut, daß es durch die ganzen Straßen schallt. Meint der uns? Und wieder die Stimme aus dem Wasserwerferräumschild: "He Alter, trink mal dein Bier aus!" Was soll die Lautstärke, wer wird hier angesprochen? Ich hab kein Bier dabei!
"Was ist hier los?" denke ich so vor mich hin und lasse meine Blicke in die Umgebung schweifen. In der Wiener fahren die Wannen nervös ganz massig auf. Also, da kommt man gar nicht mehr durch. Und aus der Feuerwache dort rast die Berufsfeuerwehr heraus mit Tatütata nach rechts und links. Sind das die Rettungswagen für das Staatsdesaster?
Der Fahrradsucher ist plötzlich verschwunden. "Gib Dein Ziel niemals auf," denke ich so bei mir, "warum habe ich ihm helfen wollen?"
Die Bullen haben mittlerweile fast alles abgeriegelt: Der Lausitzer Platz ist zu, die Skalitzer ist zu, der Spreewaldplatz ist zu, die Wiener ist zu, der Görlitzer-U-Bahnhof ist zu! Nur noch die Lausitzer Straße ist als Fluchtweg frei!
"Es kommt der Tag, da will man in die Fremde...", hat Freddy mal gesungen von der Waterkant aus Hamburg. Also gehe ich gemächlichen Schrittes die Lausitzer runter am Sankt-Marien-Krankenhaus vorbei. Kein Grund zur Panik. Der Tränengasqualm nimmt ab und mein Zigarrenqualm zu.
An der Lausitzer Ecke Wiener treffe ich den rübergemachten Ostler mit seinem Freund, der gleich ausm nächsten Kebapladen zur Begrüßung drei Büchsen Bier holt. Aufm Mittelstreifen der breiten Straße unterhalten wir uns über Vergangenheit und Zukunft. Was um uns herum abläuft, interessiert uns gar nicht. Der laue Vollmondmaiabend gibt und das Gefühl eines großen Festes.
Man geht spazieren und trifft sich hier und da. Nur daß die Bullen da mitmischen wollen, stört alle ein bißchen. Warum läßt man uns nicht in Ruhe?
Wir lehnen uns an nen Straßenbaum an und stellen unsere Bierbüchsen ab. Muß mir ne Zigarette von den Getroffenen drehen, weil die Zigarren alle sind. "Oh, Du lieber Nikotin!" Der Ostler und sein Freund fangen an, unruhig umherzublicken wegen der Bambule ringsherum. Verstehe das nicht. Plötzlich rennen beide wie verrückt weg.
"I'm sitten in a railway-station. Want to wonna see the light ...," singe ich vor mich hin. Teilnahmslos bleibe ich an meinem Baum angelehnt stehen. Und da rauscht auch schon ne ganze Armada der gepolsterten Staatsgewalt in Kampfanzug auf Gummisohlen mit Knüppeln und Kampfschildern an mir vorbei. Wer oder was da gejagt wird, ist nicht zu erkennen. Die Bullen rasen da bald so rum, als wenn sie alle nen Stromschlag abgekriegt haben. Mir nur recht, denn jetzt bin im Besitz von drei fast vollen Büchsen Bier. Besser kann es gar nicht kommen. Kein Geld, aber drei Büchsen Bier, jedoch keinen Tabak und keine Zigarren. Überlegung über Überlegung. Was soll ich nun zuerst machen? Mit den Bierbüchsen abhauen und Tabak mit Blättchen besorgen? Hab ja noch die Gedrehte in der Hand. Also wartete ich hier noch ein wenig, um zu sehen, wie sich das hier entwickelt.
Die ganze Wiener um mich herum ist wie leergefegt. Kein Mensch zu sehen, nicht mal die schlagende Staatsgewalt. Nach fünf Minuten fühl ich mich hier so alleine. Wollte ich doch die Geselligkeit am Ersten Mai erleben. Gerade als ich mich aufmachen will, kommen die ganzen Leute ohne die Bullen wieder.
Der rübergemachte Ostler ist mit seinem Freund wieder da und will seine Bierbüchsen wieder haben, die ich in meiner Ruhe bewacht habe. "Hier habt ihr das wieder, was ihr verlassen habt," sage ich. Wir lachen. So sind wir wieder zusammen.
Jedoch plötzlich schepperts neben uns wieder urig. Irgendwelche Absperrungsbleche liegen auf der Straße und die Wannen rasen wie verrückt darüber. Das klappert dann ganz schön, Blech auf Asphalt und Kopfsteinpflaster.
Jetzt bewege ich mich hier auch langsam weg. Stand ich doch vorher im Schütze eines dicken Baumes. Der nächste Schutz ist auf der Straßenmitte eine dünne Ampel, die noch funktioniert. Abwechselnd Rot, gelb, grün, gelb, rot, ... beleuchtet sie mich in wechselnder Folge.
Die Staatsgewalt fährt mit ihren Wannen wieder so verrückt herum, daß ich Obacht geben muß, hier nicht mit der Ampel umgefahren zu werden. Also begebe ich mich unter der Hochbahn durch am Görlitzer in Richtung Skalitzer und achte darauf, daß mich keine Wanne von der Staatsgewalt angreift, obwohl die Situation ganz schön bedrohlich wird. Nichts wie rein in den ersten Hauseingang an der Skalitzer. Kreuzberger Fernsehkeller steht da draußen dran. Dabei ist das hier schon Nahsehen.
Im Hauseingang steht ein total verängstigtes Mädchen. Meint sie doch tatsächlich: "Ich mach mir gleich vor Angst in die Hosen." Beruhige sie: "Ruhe und Stehenbleiben ist das Beste, sonst passiert noch was. Die Bullen rennen nur allen hinterher, die laufen und flüchten. Der Fels in der Brandung wird von ihnen nicht erkannt!"
Also bleiben wir erst mal im Schütze des dunklen Hauseingangs stehen und unterhalten uns. Sie studiert Politik am Otto-Suhr-Institut, wo es der Diebgen auch schon getrieben hat. "Das ist lustig," meint sie. "Ei," sage ich, "das ist aber gut. Mit dem ich im Gumminasium in einer Bank gesessen habe, der hat auch mal Bolitik studiert und noch ganz schwierige Sprachen dazu wie arabisch und so weiter. Der ist jetzt dick im Bundesaußenkegelamt drin. Das kannst Du auch noch werden."
Plötzlich kommt nen Pulk Leute angerast, Türkenjungs sind auch dabei, und stürmen in "unseren" Hauseingang. Die machen sogar Licht im Treppenhaus an. "Seid ihr verrückt," rufe ich denen zu, "da seid ihr ja gleich dran!" Und gleich dahinter kommen auch schon die Kampfbullen angerannt.
Wir verkriechen uns schnell im dunklen Hinterhof hinter den Mülltonnen. Ein fürchterliches Gepolter im Treppenhaus dröhnt zu uns herunter in die Dunkelheit. Beachtenswert ist das, wenn die Bullen in ihrer Kampfkleidung mit dem ganzen Schilder- und Knüppelkram die Treppen hochrennen. Da gibt's wohl ein Extratraining für. Jogging und so. Man müßte mal öfters in den Grunewald fahren, um die beim Üben in der Kiesgrube auszulachen. Jedoch, sollen wir die Spanner bei den Bullen sein?
Nach zehn Minuten ist der Spuk im Treppenhaus vorbei. Wir kriechen hinter den Mülltonnen hervor, steigen auf diese und blicken über die Hinterhofmauer zum Görlitzer-U-Bahnhof rüber. Die Wannen rasen wie verteufelt umher auf engstem Raum. Die Mercedeswannenräder knallen über die Bordsteinkanten, ohne abzubrechen. Ist das der Tanz der Vampire? Sind das noch Menschen, die so brutal da herumdonnern?
Absperrgitter, Bauzäune und Gerüstrohre fliegen unter den Autorädern auf der Straße rum. Knall, Krach, Peng, Zoff, Abgas, Blech, ... Die Scherben klirren vor sich hin.
Warten, warten und warten, bis das Desaster sich beruhigt. Nach ner halben Stunde tritt die nächste Ruhe vor dem Bullensturm ein. Nichts wie raus hier aus dem Hinterhof. You can touch your light.
Ermüdet von des Ersten-Maien-Last flüchten wir in der hellen Vollmondnacht in das nächste Türkenlokal auf der Oranienstraße. Schnell rennend erreichen wir dieses in Sekundenschnelle.
Durch die große Türkenscheibe zur Straße hin können wir mit den anderen Geflüchteten die schlagenden Bullen erkennen. Die stehn jetzt nicht mehr unter Stromschlag sondern unter Drogen. Solche Handlungsweisen sind unmenschlich.
Soll man das noch bewundern? Da kloppen noch die Kampfbullen auf ihre eigene Schilder mit ihren Knüppeln, um sich Mut zu machen. Krach gegen Frust. Wer hat denn da noch Lust?
Es ist wie auf dem Meer. Ein ewiges Auf und Ab der Wellen. Wann kommt mal endlich die Windstille? Es ist schon nach Zwölfe und wir wollen nach Hause!